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Niederösterreich am Scheideweg: Was passiert, wenn die Industrie abwandert?

Eine Studie im Auftrag der Metalltechnischen Industrie und der Sparte Industrie der Wirtschaftskammer Niederösterreich zeigt, wie tief die Industrie in das soziale und wirtschaftliche Gefüge Niederösterreichs verwoben ist. Ohne weitsichtige Industriepolitik steht die Zukunftsfähigkeit der Region auf dem Spiel. Aus der Analyse leiten sich sieben wesentliche Forderungen ab.

Lesedauer: 4 Minuten

Aktualisiert am 04.07.2024

Die Rahmenbedingungen für die heimische Industrie haben sich in den letzten Jahren spürbar verschlechtert. Nahezu jedes zweite Unternehmen (46 Prozent) überlegt Standortverlagerungen, so das Ergebnis einer Blitzbefragung der Niederösterreichischen Industrie. Was wäre, wenn die Spitzen-Industrie aus Niederösterreich abwandert? Welche Auswirkungen hätte das für die Region und deren Bevölkerung – von der Arbeitsplatzsituation über das Vereinswesen bis hin zu den öffentlichen Infrastrukturen?

Um dieses Szenario greifbar darstellen zu können, hat die Wirtschaftskammer NÖ (Sparte Industrie und Fachgruppe Metalltechnische Industrie) die Studie „Fehlende Industrie NÖ" beim Industriewissenschaftlichen Institut in Auftrag gegeben. Deren Ergebnis: Selbst wenn „nur" 19 wichtige Industriebetriebe ihre Standorte ins Ausland verlagern würden, wären die Effekte dramatisch. Mit sieben Forderungen möchte die Sparte Industrie aufzeigen, wie die Bedingungen für Industrieunternehmen verbessert werden können. 

„Die Industrie ist nicht nur Impulsgeberin und Multiplikatorin in der österreichischen Volkswirtschaft, sie hat auch grundlegende Bedeutung für die jeweilige Region. Ohne weitsichtige Standortpolitik für die Industrie steht deren Zukunftsfähigkeit auf dem Spiel", warnt Helmut Schwarzl, Spartenobmann Industrie der WKNÖ. Eine mahnende Botschaft, die bei den politischen Verantwortlichen im Land Niederösterreich aber bereits durchaus angekommen sei und ernst genommen werde, fügt er hinzu.

Jedes zweite Unternehmen überlegt Standortverlegung

Die Industrie mit ihrem vielfältigen Branchenmix bildet die wirtschaftliche Basis Niederösterreichs. Die rund 1.000 Industrieunternehmen generieren eine Bruttowertschöpfung von nahezu 27 Milliarden Euro. Von ihnen hängen direkt oder indirekt etwa 260.000 Arbeitsplätze ab. Allerdings stehen die Industrieunternehmen unter großem Druck. Der globale Wettbewerb, Fachkräftemangel, Investitionsbedarf in Innovation und Ausbildung, externe Faktoren wie Umwelt und Infrastruktur, hohe Energiekosten oder eine überbordende Bürokratie sind Herausforderungen, die die Industrie stark belasten. „Wir müssen in Österreich aufpassen. Wir haben das Wort Deindustrialisierung vor Augen“, betont Veit Schmid-Schmidsfelden, Fachgruppenobmann Metalltechnische Industrie NÖ. Dies belegt eine aktuelle Umfrage von Deloitte: Bereits drei Viertel der befragten Betriebe (74 Prozent) sehen die Gefahr einer Deindustrialisierung hierzulande. 

Studienergebnisse: 57.700 Arbeitsplätze gefährdet

Die Studie „Fehlende Industrie NÖ" hat untersucht, was passieren würde, wenn 19 in Niederösterreich ansässige Spitzen-Industriebetriebe aus verschiedenen Bereichen des produzierenden Sektors in den nächsten fünf Jahren absiedeln würden.

  • Insgesamt wären 57.700 Arbeitsplätze gefährdet, das entspricht etwa der Einwohnerzahl von St. Pölten.
  • Der volkswirtschaftliche Verlust hinsichtlich des Produktionswertes würde sich auf insgesamt 16,36 Milliarden Euro im Jahr belaufen.
  • Eine Kettenreaktion weiterer wirtschaftlicher Schäden wäre zu befürchten, da Zulieferbetriebe, die von diesen Großindustrien abhängig sind, in massive Schwierigkeiten geraten würden.
  • Pro Jahr würden Steuern und Sozialabgaben in Höhe von rund 1,93 Milliarden Euro verloren gehen. Das entspricht dem Landesbudget für Bildung und Wissenschaft.

„Ihre Rolle als Arbeitgeberin, Investorin und Steuerzahlerin macht die Industrie zu einem unverzichtbaren Teil des sozialen und wirtschaftlichen Gefüges in Niederösterreich und darüber hinaus“, so Helmut Schwarzl.  

Industrieunternehmen sind aktive Gestalter in der Region

„Die Industrieunternehmen sind stark vernetzt am Standort. Zulieferer, Dienstleistungen, Konsum – an ihnen hängen zahlreiche weitere kleine Betriebe. Es ist eine eng miteinander verflochtene Wertschöpfungskette. Wenn ein Industrieunternehmen abwandert, ist dies vergleichbar mit einem Stein, den man in einen Teich wirft und dessen Wellen sich immer weiter ausbreiten“, betont Herwig Schneider, Geschäftsführer des Industriewissenschaftlichen Instituts. Hinzu kommt: Die Industrieunternehmen haben eine große soziale Verantwortung in der Region. Dieses Engagement umfasst Bereiche wie Aus- und Weiterbildung oder die Unterstützung lokaler Einrichtungen wie der Feuerwehr. Außerdem sponsern sie Sport- und Kulturveranstaltungen sowie lokale Vereine. „Ohne Industrie käme es zu einem verheerenden Stillstand im Land“, warnt Veit Schmid-Schmidsfelden. 

7 Forderungen für eine starke Standortpolitik

„Wenn man das alles bedenkt, wird schnell klar, warum die große Sorge um das Land uns veranlasst, eine starke und die Industrie unterstützende Standortpolitik einzufordern. Die Industrie ist bereit, ihren Beitrag zu leisten. Wir brauchen jedoch industriefreundliche Rahmenbedingungen", mahnt Helmut Schwarzl, Spartenobmann Industrie der WKNÖ. „Einen Standort zu entwickeln heißt, jetzt Entscheidungen zu treffen, damit wir auch übermorgen noch Wohlstand haben“, unterstreicht Veit Schmid-Schmidsfelden, Fachgruppenobmann Metalltechnische Industrie NÖ. Um Gefahren einer mangelnden Standortförderung zu vermeiden, stellt die Sparte Industrie sieben wesentliche Forderungen. 

  1. Ein besseres Verständnis für den Industriestandort entwickeln. Es gilt, kleinere Unternehmen zu unterstützen und die Ansiedlung internationaler Konzerne zu fördern.
  2. Faktor Arbeit entlasten. Österreich hat im internationalen Vergleich die viertgrößte Belastung des Arbeitsfaktors.
  3. Transformation als zentrales öffentliches Interesse. Die Transformation ist außer Streit zu stellen, um unnötig lange Blockaden durch in die Länge gezogene Genehmigungsverfahren (z.B. UVP-Verfahren) zu unterbinden.
  4. Energie wettbewerbsfähig gestalten. Energiesicherheit und -kosten werden als Hauptgründe für Standortverlagerungen genannt.
  5. Bürokratie abbauen. Die hohe Regulierungsdichte belastet viele Unternehmen erheblich.
  6. Technologieoffenheit zulassen. Die Offenheit für verschiedene technologische Möglichkeiten führt durch Wettbewerb zu starken Innovationen und ist entscheidend für den Klimaschutz.
  7. Infrastruktur ausbauen. Sie ermöglicht den reibungslosen Transport von Rohstoffen und Endprodukten.

Die Sparte Industrie der Wirtschaftskammer Niederösterreich

Die Sparte Industrie der Wirtschaftskammer Niederösterreich vertritt die Interessen von etwa 1.000 Mitgliedern. Die Industrieunternehmen Niederösterreichs beschäftigen etwa 80.000 Mitarbeitende und erwirtschaften einen Produktionswert von rund 40 Mrd. Euro. 230 Lehrbetriebe bilden ca. 2.700 Lehrlinge in fast 100 verschiedenen Berufen aus. Die Sparte Industrie ist die treibende Kraft in der dualen Ausbildung und Berufsorientierung, bringt sich bei der Gestaltung von Gesetzen ein und vertritt die Interessen der NÖ-Industrie gegenüber Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit.


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© Andreas Kraus V.l. Herwig Schneider (Geschäftsführer des Industriewissenschaftlichen Instituts), Veit Schmid-Schmidsfelden (Fachgruppenobmann Metalltechnische Industrie NÖ) und Helmut Schwarzl (Spartenobmann NÖ Industrie) zeigen mit der Studie „Fehlende Industrie NÖ“, welche Auswirkungen es hätte, wenn 19 NÖ Industriebetriebe abwandern würden.

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