EU: zwischen Freiheit und Bürokratie
Vor 30 Jahren haben sich zwei Drittel der Österreicher für den EU-Beitritt entschieden – mit positiven Effekten für die Wirtschaft und die Menschen im Land. Um weiterhin zu profitieren, gilt es aber, den Binnenmarkt zukunftsfit zu machen.
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Ganz eindeutig im Bereich der Arbeitskräfte“, stellt Alfred Dachsberger klar, knöpft sich den weißen Arbeitsmantel zu und führt auf dem Weg in die Zerlegehalle weiter aus: „Bevor Österreich Teil der EU wurde, war es extrem schwer, Fachkräfte aus den Nachbarländern zu bekommen. Wir mussten einen Fachkräftebedarf nachweisen und hatten keine Chance, ,einfache‘ Mitarbeiter und Hilfskräfte anzuwerben.“ 20 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, im beschaulichen Gauderndorf (Bezirk Horn), hat Dachsbergers Großvater 1949 einen Viehhandelsbetrieb gegründet. Mit der Entstehung der Supermärkte hat sich das Waldviertler Unternehmen immer mehr auf die Verarbeitung und den Vertrieb von Schweinefleisch verlegt. Heute führt Alfred Dachsberger Niederösterreichs größten Schweineschlacht- und Zerlegebetrieb in dritter Generation, gemeinsam mit seinem Bruder und seinem Cousin. Von den 250 Mitarbeitern kommen drei Viertel aus den EU-Nachbarländern, hauptsächlich aus Tschechien und Ungarn. „Vor allem während Corona haben wir gesehen, wie wichtig der freie Grenzverkehr für uns ist.“
Aber auch beim Export bringt Österreichs EU-Mitgliedschaft dem Betrieb mit drei Filialen und einer Wurstproduktion (Waldviertler Fleischerei) Vorteile. „Der Euro ist positiv, wir müssen nicht mehr mit Wechselkursrisiken spekulieren. Und da wir verschiedene Märkte viel einfacher bedienen können, schaffen wir es, nahezu 100 Prozent unserer Schweine – die ausschließlich aus Österreich stammen – zu verwerten“, erklärt der Chef. So gehen etwa die besonders fetten Schinken nach Italien, die Gehirne nach Ungarn und Rumänien, Füße sowie Knochen nach Asien.
„Was beim Warenfluss einfacher geworden ist, hat sich in anderen Bereichen geradezu zum bürokratischen Wahnsinn entwickelt“, zeigt Dachsberger Verbesserungspotenzial auf. „Anstatt bestehende Vorschriften zu evaluieren und zu analysieren, was braucht man wirklich, was macht Sinn, werden immer noch mehr und noch sinnlosere Bestimmungen beschlossen.“ Ein Beispiel, so der erfolgreiche Unternehmer, sei die EU Entwaldungsverordnung. „Es braucht eine Nachweispflicht, dass Rindfleisch und Soja ausschließlich von entwaldungsfreien Flächen stammen. Als ob in Österreich Wald gerodet würde, um
Rinder zu halten“, kann Dachsberger
nur den Kopf schütteln.
Starke Wirtschaftsbilanz
Vor 30 Jahren, am 12. Juni 1994, haben sich zwei Drittel (66,64 Prozent) der Bevölkerung in Österreich für einen EU-Beitritt entschieden. Die Wirtschaftsbilanz nach 30 Jahren zeigt: Österreich hat durch mehr wirtschaftliche Dynamik stark profitiert. Durch die EU-Mitgliedschaft ist Österreichs Wirtschaft im Schnitt um 0,7 Prozent stärker gewachsen. Österreichs Betriebe haben die Chancen von Ost-Öffnung und EUBeitritt erfolgreich genutzt – denn in Summe verzeichnet Österreich mit den „neuen“ EU-Mitgliedstaaten einen permanenten Handelsbilanzüberschuss.
Partner im Binnenmarkt
„Seit dem EU-Beitritt profitierten wir nachhaltig vom innergemeinschaftlichen Handel. War es zu Beginn unserer europäischen Vertriebstätigkeiten eher der deutschsprachige Raum, so haben wir heute Partner und Kontakte im gesamten europäischen Binnenmarkt“, informiert Ronald Brunner, Head of Sales
der Variotherm Heizsysteme GmbH
in Leobersdorf. Seit der Gründung 1979 ist Variotherm Innovationsleader für Flächenheizsysteme und Flächenkühlsysteme und entwickelt – unter dem Motto Individualität und Behaglichkeit für Generationen – unter anderem Lösungen rund um die Gebäudesanierung. „Wir hauchen alten Gebäuden gewissermaßen neue Energie ein und machen sie damit zukunftsfit“, umschreibt er bildhaft und zeigt anhand einer Grafik den Aufbau der nur 20 mm dicken Trockenbaufußbodenheizung.
Auch Großbritannien war und ist ein bedeutungsvoller Markt für das NÖ Unternehmen. „Durch die Wiedereinführung diverser Zollschranken und viele weitere bürokratische Hindernisse sind Transporte auf die Insel aber bei Weitem nicht mehr so einfach zu handhaben wie vor dem Brexit – was wiederum sehr für die EU spricht“, sagt Brunner und führt weiter aus: „Die EU bietet ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Stabilität, was für unsere Geschäftsplanung und unsere langfristigen regionalen Investitionen wichtig ist“, weiß der Vertriebsleiter. Für Varioherm bedeute dies, „dass wir in ein stabiles Umfeld investieren und die Geschäftsstrategien auf einer zuverlässigen Grundlage entwickeln können.“
Die Zugehörigkeit zu einem großen Wirtschaftsblock wie der EU erleichtert den Aufbau von Partnerschaften und Netzwerken mit anderen Unternehmen und Forschungseinrichtungen. „Dies kann für die Innovation und Expansion von entscheidender Bedeutung sein, insbesondere in einem technologieintensiven Sektor. So ist Variotherm ein fester Bestandteil eines deutsch – österreichischen Netzwerks rund um das Thema Flächenheizung. Der gemeinsame Austausch der
Erfahrungen zwischen dem österreichischen und dem deutschen Markt sind unersetzbar“, betont Brunner.
„Wir sind ein Pionier im Bereich Heizen und Kühlen mit Niedertemperatur. All das, was heute in Österreich, Deutschland und Europa rund um das große Thema Heizungstausch kommuniziert wird und in einem Appell zum Energiesparen mündet, ist bei uns seit 1979 gelebte Praxis. Seitens der EU braucht es nicht nur eine Absage in Richtung veralteter fossiler Heizsysteme, sondern auch eine klare Förderung und ein klares Statement für Wärmeverteilsysteme in Gebäuden“, appelliert Brunner dafür, das Thema Heizen weiter zu denken.
Es sei zu kurzsichtig, nur darüber zu reden, wie nachhaltige Energie erzeugt wird. „Vielmehr sollte es auch darum gehen, wie Wärme und zukünftig vor allem Kälte sinnvoll im Gebäude verteilt werden. So sollten Investitionen in diese Technologien zielgerichtet und nachhaltig gefördert werden. Die EU muss sicherstellen, dass europäisches Know-how und europäische Gelder weiterhin den Binnenmarkt stärken.“
Ein neuer und besserer EU-Binnenmarkt
In einem aktuellen Papier sprechen sich – in zehn Punkten – Bundeskanzleramt und Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft für einen neuen und besseren EU-Binnenmarkt aus. „Die globalen Dynamiken fordern neue internationale Rahmenbedingungen im Binnenmarkt. Etablierte europäische Unternehmen stehen unter hohem Konkurrenzdruck. Es bedarf einer gezielten Weiterentwicklung, um den europäischen Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern“, heißt es.
Erfreulich ist für Patrick Hartweg, Leiter der Abteilung Außenwirtschaft, Europa und Verkehrspolitik der Wirtschaftskammer Niederösterreich, dass sich im 10-Punkte-Plan der österreichischen Bundesregierung zur Stärkung des EU-Binnenmarktes zahlreiche Forderungen der Wirtschaftskammer wiederfinden. Neben dem Anliegen einer „Reduktion administrativer Belastungen“ und einer „Stärkung der Binnenmarktregeln“, sieht Hartweg, „besonders den Wunsch nach einer stärkeren Berücksichtigung der wirtschaftlichen Dimension im Rechtsstaatlichkeitsmechanismus für wichtig an, denn in der Vergangenheit hat es hier besonders mit Ungarn schlechte Erfahrungen von österreichischen Unternehmen gegeben.“
Fakten zur EU-Wahl:
- Am 9. Juni findet die EU-Wahl statt. Alle fünf Jahre wählen die Bürger:innen der Europäischen Union die Mitglieder des Europäischen Parlaments – zuletzt im Mai 2019. Damals lag die gesamteuropäische Wahlbeteiligung bei rund 50 Prozent.
Das Europäische Parlament ist die einzige direkt gewählte transnationale Versammlung der Welt. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments vertreten die Interessen der EU-Bürger:innen auf europäischer Ebene.
Gemeinsam mit den Vertreterinnen und Vertretern der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten haben die Abgeordneten die Aufgabe, neue Gesetze zu gestalten und zu beschließen. Diese Gesetze betreffen sämtliche Bereiche des Lebens in der Europäischen Union, von der Unterstützung der Wirtschaft und dem Kampf gegen die Armut bis hin zu Klimawandel und Sicherheit.
https://elections.europa.eu
Haus der Wirtschaft
- Österreich wird in Brüssel bald noch stärker sichtbar: Im Herbst 2024 öffnet das „Haus der Wirtschaft“ seine Pforten und bietet den verschiedenen Sprachrohren der österreichischen Wirtschaft – AußenwirtschaftsCenter, EU-Repräsentation und Österreich Werbung – einen neuen Auftritt unter einem gemeinsamen Dach. Österreichische Unternehmen finden in diesem Haus zahlreiche Büro- und Eventräumlichkeiten zur Anmietung, um sich gezielt zu präsentieren und das Netzwerken in der EU-Hauptstadt zu erleichtern.