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Sparte Industrie

Bildung

Lesedauer: 8 Minuten

02.07.2024

Gleitzeit: Kein Lohnabzug für Zeitschulden, die der Arbeitgeber veranlasst hat

Der Kläger war von 23.9.2019 bis 4.3.2022 bei der Beklagten als Zusteller beschäftigt. Auf das Dienstverhältnis ist der Kollektivvertrag für Bedienstete der Österreichischen Post AG (ÖPAG) anzuwenden. Im Arbeitsvertrag des Klägers ist eine wöchentliche Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt. Weiters heißt es:

„Für Zusteller in einem Gleitzeitdurchrechnungsmodell gelten abweichend von c und d die Bestimmungen der am 3.9.2012 abgeschlossenen „Betriebsvereinbarung gemäß § 4b AZG iVm § 29 ArbVG und gemäß § 73 Abs 2 Z 2 PBVG sowie gemäß § 96 ArbVG über die Flexibilisierung der Normalarbeitszeit sowie über die Verwendung eines EDV unterstützten Zeiterfassungssystems sowie über begleitende Entgeltregelungen in den Zustellbasen der Division 'Brief' der Österreichischen Post AG.“ (im Folgenden: BV)

Die Betriebsvereinbarung lautet auszugsweise:

„A. Gleitende Arbeitszeit/ Arbeitszeitdurchrechnung

Ausscheiden der Mitarbeiterin

Bei Auflösung des Dienstverhältnisses sind Zeitschulden bzw. Zeitguthaben bis zum Ende des Dienstverhältnisses tunlichst auszugleichen.

Sind bis Ende des Dienstverhältnisses dennoch Zeitguthaben oder Zeitschulden offen, so werden bei der Endabrechnung Zeitguthaben unter Berücksichtigung des zur Auszahlung gelangenden Mehrstunden-/Überstundenpauschales entsprechend den einschlägigen gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regelungen ausbezahlt. Dies gilt nicht, sofern das Dienstverhältnis der Mitarbeiter/in durch Entlassung oder bei einer KV-neu-Mitarbeiter/in auch durch vorzeitigen Austritt ohne wichtigen Grund endet. Zeitschulden werden mit dem Normalstundensatz von auszuzahlenden Beträgen abgezogen.“

Dem Kläger wurde vor Dienstantritt bei seiner Einschulung vom Ausbildner gesagt, dass Zusteller vor Ende der 8-stündigen täglichen Arbeitszeit nach Hause gehen können, wenn sie ihre Zustellungen erledigt hätten. Deshalb sei das ein super Job. Der Kläger führte seine Zustellungen immer sehr zügig und korrekt durch, sodass er meist eine Stunde früher fertig war. Er hatte daher fortlaufend Minusstunden auf seinem Zeitkonto. Diese Minusstunden wurden immer weiter übertragen.

Der Kläger übernahm zusätzlich Dienste für Kolleginnen und Kollegen, sogenannte „Mitbesorgung“. Diese Mehrstunden wurden jedoch nicht am Gleitzeitkonto erfasst, sondern als Überstunden ausbezahlt. Er wurde nie aufgefordert, länger zu bleiben, um die Arbeitszeit an der Zustellbasis „abzusitzen“, oder langsamer zuzustellen.

Das Dienstverhältnis wurde einvernehmlich auf Wunsch des Klägers aufgelöst. Bei Beendigung des Dienstverhältnisses wies das Zeitkonto des Klägers 122,48 Minusstunden auf. In der schriftlichen Auflösungsvereinbarung werden Minusstunden nicht erwähnt. Im Vorfeld hatte die Leiterin der Zustellbasis dem Kläger mitgeteilt, dass ihres Wissens bei der Auflösung die Minusstunden üblicherweise nicht abgezogen werden. Im Rahmen der Lohnendabrechnung für März 2022 wurden dem Kläger allerdings 1.166,01,-- brutto aus dem Titel „Rückverrechnung Ist-Zeit“ in Abzug gebracht.

Der Kläger begehrt 1.166,01,-- brutto sA, die ihm bei der Endabrechnung für Minusstunden abgezogen wurden. Der Abzug sei zu Unrecht erfolgt, da etwaige Minusstunden der Sphäre der Beklagten zuzurechnen seien. Er habe weder den Beginn noch das Ende der täglichen Normalarbeitszeit frei wählen können und sei durchgehend arbeitsbereit und arbeitswillig gewesen, weshalb ihm nach § 1155 Abs 1 ABGB auch das Entgelt zustehe. Er habe die negativen Zeitsalden auch de facto nicht abbauen können. Zusatzdienste seien extra verrechnet und im Folgemonat als Überstunden ausbezahlt worden. In  der Auflösungsvereinbarung werde ein möglicher Gehaltsabzug nicht erwähnt. Darin sei ein Verzicht der Beklagten auf die Rückverrechnung von Minusstunden zu erblicken.

Die beklagte Arbeitgeberin argumentierte, der Gehaltsabzug sei aufgrund von Zeitschulden des Klägers zulässig erfolgt. Der Kläger sei im Briefzustelldienst in einem Gleitzeitdurchrechnungsmodell beschäftigt gewesen. Auf das Arbeitsverhältnis sei die Betriebsvereinbarung über die Flexibilisierung der Normalarbeitszeit vom 3.9.2012 zur Anwendung gelangt. An der Zustellbasis des Klägers habe der Dienst üblicherweise um 6:10 oder 6:15 Uhr begonnen, die Betriebsvereinbarung habe davon abweichend die freie Wahl des Dienstbeginns in einem Rahmen von -10/+20 Minuten erlaubt. Da nicht an jedem Tag gleich viel Post zuzustellen sei, ergäben sich Schwankungen zwischen den Tagen einer Woche, aber auch zwischen einzelnen Monaten. Daher sehe die Betriebsvereinbarung einen Durchrechnungszeitraum von einem Jahr vor.

Der Kläger habe sich im Arbeitsvertrag zu einer Tätigkeit im Umfang von 40 Stunden pro Woche verpflichtet. Die Zustellrayons seien so bemessen, dass sie im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung, also im Durchschnitt in 40 Stunden pro Woche, „bedient“ werden könnten. Der Kläger hätte daher das Arbeitstempo so zu wählen gehabt, dass im Schnitt die volle geschuldete Arbeitszeit aufgewendet werde. Wenn Zusteller:innen diese durchschnittliche Arbeitszeit dauerhaft und signifikant unterschritten, leide darunter entweder deren Gesundheit oder die Zustellqualität. Der Kläger habe mit seinem Vorgehen weisungswidrig gehandelt, wodurch es zu den Minusstunden gekommen sei. Diese seien bei Beendigung des Dienstverhältnisses entsprechend der Betriebsvereinbarung abgezogen worden.

Sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht entschieden im Sinne des Klägers.

Die Revision der beklagten Arbeitgeberin wurde vom OGH abgewiesen, im Wesentlichen mit folgender Begründung:

Nach § 1155 Abs 1 Satz 1 ABGB gebührt dem Dienstnehmer auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, das Entgelt, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des Dienstgebers liegen, daran verhindert worden ist.

Maßgeblich ist, wessen Sphäre der Grund für das Unterbleiben der Arbeitsleistung zuzurechnen ist. Zur Sphäre des Arbeitgebers gehören generell alle die Dienstverhinderung auslösenden Ereignisse und Umstände, welche die Person des Arbeitgebers, sein Unternehmen, Organisation und Ablauf des Betriebes, die Zufuhr von Rohstoffen, Energien und sonstigen Betriebsmitteln, die erforderlichen Arbeitskräfte, die Auftragslage und Absatzlage sowie die rechtliche Zulässigkeit der betrieblichen und unternehmerischen Tätigkeit betreffen.

Die Zurechnung zur Sphäre des Arbeitgebers führt dazu, dass der Anspruch auf Entgelt aufrecht bleibt, obwohl keine Arbeitsleistung erbracht wurde. Das bedeutet auch, dass in diesen Fällen eine Rückforderung oder ein Abzug des Entgelts für Minusstunden bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in Betracht kommt.

Resultieren bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses verbleibende Minusstunden dagegen aus einer Gleitzeitvereinbarung, nach der der Arbeitnehmer Beginn und Ende seiner täglichen Arbeitszeit während des Gleitzeitrahmens selbst bestimmen kann, wird das Unterbleiben der Arbeitsleistung in der Regel der Sphäre des Arbeitnehmers zuzurechnen sein, da das Entstehen der Minusstunden auf seine eigenbestimmte Zeiteinteilung zurückzuführen ist.

Eine Rückzahlungspflicht bzw. Verrechnungsmöglichkeit wird allerdings dann verneint, wenn die Unmöglichkeit des Naturalausgleichs dem Arbeitgeber zuzurechnen ist, etwa bei berechtigtem vorzeitigem Austritt, unberechtigter Entlassung oder Arbeitgeberkündigung, sofern das Einarbeiten der Fehlstunden während der Kündigungsfrist unmöglich oder unzumutbar ist.

Zu prüfen ist daher zunächst, wessen Sphäre es zuzurechnen ist, dass beim Kläger die Zeitabrechnung am Ende des Arbeitsverhältnisses Minusstunden aufgewiesen hat. Grundsätzlich hatten die Parteien eine Normalarbeitszeit von 40 Stunden festgelegt. Zusätzlich wurde ein „Gleitzeitdurchrechnungs-modell“ vereinbart. Die Dispositionsmöglichkeit des Klägers aufgrund dieser Vereinbarung beschränkte sich allerdings darauf, innerhalb eines Rahmens von -10/+20 Minuten um einen vorgegebenen Zeitpunkt seinen Arbeitsbeginn festzulegen. Sämtliche anderen Parameter waren von der Beklagten vorgegeben, insbesondere die Zuteilung der zu erledigenden Arbeit (ein bestimmtes Rayon) und das Ende der Arbeitszeit, nämlich die vollständige Erfüllung der zugeordneten Aufgaben. Damit war aber die Dauer der Arbeitsleistung an jedem Tag zwar nicht zeitlich, aber durch die Übertragung der konkreten Arbeitsaufgabe (Zustellung in einem bestimmten Rayon) von der Beklagten vorgegeben und vom Kläger grundsätzlich nicht beeinflussbar.

Die Ausführungen der Beklagten dazu, dass dem Kläger der Vorwurf zu machen sei, die ihm übertragenen Aufgaben „zu schnell“ erledigt zu haben, verkennen, dass der Kläger in erster Linie das Bemühen um die ordnungsgemäße Erfüllung der ihm übertragenen Arbeiten schuldete. Dass er aufgrund seines Arbeitstempos seine Aufgaben unzureichend erfüllt hat oder seine Gesundheit konkret gefährdet hat, behauptet auch die Beklagte nicht. Wenn er – wie die Revision moniert – schnell arbeitete, „um mehr Freizeit zu haben“, mag das richtig sein, ist aber hier nicht entscheidend. Im Übrigen wurde dem Kläger ja schon bei der Einstellung angekündigt, dass es sich deshalb um einen „super Job“ handle. Ein vernünftiges Arbeitstempo soll auch nicht der Verhinderung von Minusstunden, sondern der Einhaltung von Qualitätsstandards dienen.

Da dem Kläger von der Beklagten neben dem Abarbeiten seines Rayons keine anderen Aufgaben übertragen wurden und ein „Absitzen“ der Zeit in der Zustellbasis nicht erwünscht war, wurde ihm seitens der Beklagten keine Möglichkeit gegeben, allfällige aus seiner schnelleren Arbeitsweise resultierenden Minusstunden abzuarbeiten. Das Entstehen der Minusstunden ist daher nicht auf eine unzureichende Zeiteinteilung des Klägers zurückzuführen. Vielmehr sind die bei Beendigung des Dienstverhältnisses vorliegenden Minusstunden der Sphäre der Beklagten zuzurechnen, die dem Kläger nur ein klar bestimmtes Arbeitskontingent zur Erledigung zuwies und die Arbeitszeit mit dieser Erledigung begrenzte.

Zwar verweist die Beklagte zu Recht darauf, dass der Entgeltanspruch voraussetzt, dass der Arbeitnehmer zur Leistung bereit war. Der Kläger hat allerdings alle ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß erledigt. Damit hat er seine Leistungsbereitschaft der Beklagten gegenüber ausreichend zum Ausdruck gebracht.

Richtig ist, wie die Revision ausführt, dass § 1155 ABGB dispositiv ist und daher von den Arbeitsvertragsparteien abbedungen werden kann. Die Grenze der Abdingbarkeit stellt somit die Sittenwidrigkeit dar.

Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob die in Pkt 9 der BV vorgesehene Abrechnung überhaupt als Abbedingen des § 1155 ABGB zu verstehen ist und ob die BV – unabhängig davon, ob sie dem AZG unterliegt – eine wirksame Gleitzeitvereinbarung darstellt.

Da die Beklagte es im zuvor aufgezeigten Sinn durch die Einteilung der Arbeit und die Vorgabe, dass mit der Erledigung der zugewiesenen Arbeit die Arbeitszeit endet, dem Kläger im Rahmen der Vereinbarung unmöglich machte, allfällige Minusstunden abzuarbeiten und sie selbst trotz Festlegung einer 40 Stunden Woche über die Besorgung des konkreten Zustellrayons hinaus kein Interesse an einer Arbeitsleistung des Klägers hatte, wäre ein Ausschluss des § 1155 ABGB in diesem Umfang nach § 879 Abs 1 ABGB unwirksam. Dieser Fall ist letztlich nicht anders zu beurteilen, als die Einteilung des Arbeitnehmers im Rahmen von vom Dienstgeber vorgegebenen Dienstplänen, die es dem Dienstnehmer unmöglich machen, die vereinbarte Stundenzahl zu erreichen. Im vorliegenden Fall bestand zwar keine Zeitvorgabe, aber eine klare Vorgabe des zu erbringenden Arbeitsumfangs, mit dessen Erledigung die Arbeit begrenzt war.

OGH 15.2.2024, 8ObA58/23x

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