Zeichnung von Eurozeichen, das an einem Seil hängt. Das Seil wird links von einem blauen und rechts von einem grünen Männchen gezogen.
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Wie Kollektivverträge Streiks verhindern

Im Herbst wird traditionell immer um die Kollektivverträge gerungen. Was heuer passiert und warum dadurch der soziale Frieden stabilisiert wird.

Lesedauer: 4 Minuten

Aktualisiert am 11.11.2024

Manchmal kann es ganz schnell gehen. So 2020, als sich die Verhandler der Metallindustrie mitten im ersten Corona-Herbst und angesichts des zu erwartenden größten Produktionseinbruchs seit dem Zweiten Weltkrieg binnen einer Stunde auf einen neuen Kollektivvertrag einigten. Plus 1,45 gab es damals, was einer Inflationsabgeltung entsprach. 

Meist braucht die Kompromisssuche aber einige Verhandlungsrunden. Gleich acht waren es im vergangenen Herbst, bis man sich in der Branche der Metalltechnischen Industrie (MIT) auf ein durchschnittliches Plus von 8,6 Prozent geeinigt hatte. 

Kollektivvertragsverhandlungen sind immer auch ein Austesten von sozialpartnerschaftlichen Zumutbarkeitsgrenzen. Auf der einen Seite die Arbeitgeber, auf der anderen Seite die gewerkschaftliche Vertretung der Arbeitnehmer. Dazwischen Forderungen und Angebote, rundherum eine konjunkturelle Gesamtkulisse und politische Begleitmusik: Das Feilschen um Lohnabschlüsse in den einzelnen Branchen wird traditionell mit der Metallindustrie in einen „heißen Herbst“ gestartet. 

Heuer ist er nicht ganz so heiß. „Schuld“ daran ist das Vorjahr. Da man damals erstmalig einen Abschluss für zwei Jahre erzielte, gab es heuer eine automatische Vorrückung. „Die KV-Verhandlungen 2023 haben neue Maßstäbe gesetzt“, meinte MIT-Chefverhandler Christian Knill damals (siehe Interview unten) angesichts der rezessionsbedingt eingeschränkten Spielräume. „Dieser Kollektivvertragsabschluss ist ein kräftiges Zeichen für eine lösungsorientierte Sozialpartnerschaft“, lobten sich parallel die Chefverhandler auf Arbeitnehmerseite. 

Eigenlob nach teils zäher Konsensfindung – auch das gehört wie das kameragerecht aufbereitete Übergeben der deftigen Forderungs- und großzügigen Angebotskataloge zu Beginn der Gespräche zum Ritual der Kollektivvertragsverhandlungen. 

Gleiche Pflicht für alle

Die Relevanz heiligt die Mittel. Denn anders als in anderen Ländern ist die direkte „KV-Betroffenheit“ in Österreich besonders hoch: Für 98 Prozent der Arbeitnehmer sind Kollektivverträge in Kraft. Während in anderen Ländern – beispielsweise Deutschland oder Dänemark – die Lohnfindung stärker auf die betriebliche Ebene ausgelagert ist, wird in Österreich im Rahmen einer sozialpartnerschaftlichen Autonomie unter anderem über Mindestlöhne und -gehälter, rechtliche Schutzbestimmungen, Urlaubs- und Arbeitszeitregelungen  verhandelt. Die Ergebnisse gelten immer für eine gesamte Branche, dürfen nicht unterlaufen werden und sorgen damit für gleiche Wettbewerbsbedingungen unter den Unternehmen. Sie müssen zumindest die gleichen Mindeststandards einhalten.

Ruhezone ohne Garantie

Die letztjährige Einigung in der Metallindustrie war zudem eine historische Premiere, weil die Regelung für die rund 200.000 Beschäftigten erstmalig für zwei Jahre gilt, was  – zumindest kurzfristig – für Planungssicherheit bei den Unternehmen sorgt. 

Denn eine (damals noch sehr) hohe Inflation und eine schwächelnde Konjunktur ergeben eine toxische Mischung für den sozialen Frieden, der in Österreich eine lange Tradition hat. Das spiegelt sich wider in einer im internationalen Vergleich immer noch deutlich geringeren Zahl an Streiktagen. So wurde in den letzten 30 Jahren in Österreich durchschnittlich nur jedes vierte Jahr länger als einen Tag gestreikt. Zwischen 2012 und 2021 gab es jährlich im Schnitt nur einen Streiktag pro 1.000 Beschäftigten. Nur in der Slowakei wurde noch seltener gestreikt (0 Streiktage). Belgien und Frankreich hingegen haben eine ausgeprägte Streikkultur mit 96 beziehungsweise 92 Streiktagen pro tausend Beschäftigten. 

Die diesbezügliche rot-weiß-rote Ruhezone hat aber keine automatische Bestandsgarantie. So benötigte der Handel im vergangenen Jahr nicht nur sieben Verhandlungsrunden, es kam zudem mitten im Weihnachtsgeschäft zu Warnstreiks. Auch heuer liegt man noch deutlich ausei­nander. Während die Gewerkschaft für die mehr als 430.000 Beschäftigten mit einer 4,8-Prozent-Forderung gestartet ist, lag das Erstangebot der Arbeitgeber bei 2,8 Prozent. Ebenfalls noch ohne Einigung laufen unter anderem die Kollektivvertragsverhandlungen für die rund 55.000 Beschäftigten des Eisenbahnsektors.  

KI als KV-Verhandler

Unabhängig von der Branche warnen Experten vor zu hohen Lohn- und damit Produktionskosten. So lagen die KV-Löhne im August 2024 um knapp 23 Prozent über jenen vom Jänner 2020, was die Lohnstückkosten entsprechend in die Höhe getrieben und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sinken hat lassen. Allein im ersten Quartal des heurigen Jahres bedeutet das Plus von 4,5 Prozent bei den KV-Löhnen eine deutlich stärkere Zunahme als beispielsweise in Deutschland (plus drei Prozent). Der Durchschnitt der Euro-Raum-Länder lag bei nur zwei Prozent.

Angesichts all dieser Zahlen- und Daten-Vergleiche, die regelmäßig für hochemotionale Debatten sorgen, überrascht die Unternehmensberatung Kearney mit einem neuen Ansatz: So sollen mittels Künstlicher Intelligenz künftig Vorschläge und ihre Folgen ganzheitlich simuliert und optimiert werden und so für beschleunigte, transparente und emotionslose KV-Verhandlungen sorgen. 


Interview mit Christian Knill* 

Die Metallindustrie hat sich 2023 erstmals auf einen zweijährigen Abschluss geeinigt. Wie fühlt sich ein Herbst als „arbeitsloser“ Kollektivvertragsverhandler an?

Christian Knill: Erstens haben wir in den letzten Monaten die Wettbewerbs- und Beschäftigungssicherungsklausel sehr intensiv im Stillen verhandelt und zweitens habe ich einen Hauptjob als Unternehmer.

Bringt der für zwei Jahre geltende Abschluss die erhoffte Entspannung?

Leider sind die Abschlüsse der letzten drei Jahre wegen der hohen Inflation viel zu hoch ausgefallen. Wir haben dadurch viel an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Nur fünf Prozent der Unternehmen konnten die Klausel in Anspruch nehmen. Zwei-Jahres-Abschlüsse haben zwar den Vorteil der besseren Planbarkeit, aber man muss früh abschätzen, wohin sich alles in diesen zwei Jahren hinentwickelt. 

Sind Kollektivverträge, wie sie in Österreich verhandelt werden, überhaupt noch zeitgemäß?

Ich denke, es muss viel stärker auf Betriebsebene geschaut werden, wie viel Erhöhung sich ausgeht. Es muss auch möglich sein, Dinge im Kollektivvertrag zu streichen, damit nicht immer noch mehr dazukommen. Dann wäre ein KV auch weiterhin zeitgemäß.

*Geschäftsführer der Knill- Gruppe und als Fachverbandsobmann der Metalltechnischen Industrie Chefverhandler bei Kollektivvertragsverhandlungen.