Menasse im Porträt
© Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag

Robert Menasse im Interview: „Sonst wird die EU zerbrechen“

Schriftsteller Robert Menasse kritisiert die EU kenntnisreich – vertei­digt die europäische Idee aber leidenschaftlich und drängt aus Überzeugung auf ein „nachnationales Europa“

Lesedauer: 5 Minuten

Aktualisiert am 23.05.2024

Sie haben in vier Büchern die EU seziert. Ist im Laufe dieser Arbeit die Befürchtung gewachsen, dass sich Europa mit einer Gemeinschaftsillusion selbst überfordert, oder die Hoffnung größer geworden, dass sich die Union in die richtige Richtung entwickelt?

Robert Menasse: Je mehr ich mich mit der EU beschäftigt habe, je mehr ich gelernt habe, desto größer wurde meine Bewunderung für die Vision der Gründergeneration des europäischen Einigungsprojekts. Aber ich habe auch verstanden, warum die EU heute so schlecht funktioniert, dass bei immer mehr Menschen die Skepsis und die Ablehnung zunimmt. 

Warum ist das so?

Robert Menasse: Die Politik folgt nicht mehr der Vision, also einem Gestaltungsanspruch, sondern einem Pragmatismus, der über bestehende Strukturen und Mechanismen, auch wenn sie nicht mehr funktionieren, nicht hinausdenken kann. Die Vision der Gründer war, in Europa den Nationalismus zu überwinden, die Konkurrenz der Nationen, die zu den blutigsten Kriegen geführt hat, in supranationalen Institutionen und in Gemeinschaftspolitik aufzuheben. Sie hatten ihre Erfahrungen, das heißt, ihre Vision war geschichtsgesättigt und vernunftbegründet.

Fehlt das der heutigen Politikergeneration?

Robert Menasse: Die Politiker, die heute in europapolitischer Verantwortung sind, haben diese Erfahrung nicht, sie verstehen den Vernunftgrund der Idee eines nachnationalen Europas nicht. Sie haben die EU am Beginn ihrer Karrieren einfach vorgefunden, aber ihre Erfahrung ist, dass sie national gewählt werden und sie daher die Fiktion aufrechterhalten müssen, dass es nationale Interessen gibt und sie sie verteidigen. Nachnationale Entwicklung und Renationalisierung der Mitgliedstaaten ist ein unproduktiver Widerspruch, das kann nicht funktionieren.

Klingt düster.

Robert Menasse: Eigentlich sollte das klar sein: Alle großen Krisen und Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, sind längst transnational, von den Finanzströmen, den Lieferketten, den Abhängigkeiten bei der Energie, den Migrations- und Fluchtbewegungen, bis zur Erderwärmung. Sie können von keinem europäischen Nationalstaat souverän gelöst werden. Es geht nur mit Gemeinschaftspolitik.

Warum gelingt die Übersetzung der Erfolgsgeschichte der EU in der breiten Öffentlichkeit nicht oder nur unzureichend?

Robert Menasse: Weil für die breite Öffentlichkeit alles, was man als Erfolg würdigen kann, bereits Gewohnheit ist, aber alle Krisen und Probleme, die ihr Angst machen, von nationalen Politikern als Versagen der EU oder als deren Schuld erklärt werden. Es ist ja nicht ganz falsch, wir haben es ja wirklich mit einem Versagen der EU zu tun, schuld daran sind aber die nationalen Politiker mit ihren Blockaden. Es sind Lügner und Zyniker, wenn sie es besser wissen, aber eben ihre nationalen Mandate retten wollen, oder sie sind Idioten, wenn sie selbst an das Heil von nationaler Souveränität glauben. Beides ist bedrohlich. Das heißt, die politische Lage ist sehr bedrohlich, denn eigentlich sollte klar sein: Alle großen Krisen und Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, sind längst transnational. Sie können von keinem europäischen Nationalstaat souverän gelöst werden.

Aber Europa ist nicht alleine auf der Welt. Und die Welt wird von großen Nationen dominiert. Wie kann man mit ihnen sozusagen nachnational konkurrieren?

Robert Menasse: Wer redet denn von konkurrieren? Die USA verteidigen ihre nationalen Interessen, also die Interessen ihrer nationalen Eliten, letztlich militärisch. So machen das Nationen. China klirrt mit Waffen gegenüber Taiwan, Indien rüstet gegen China auf. Europa hat einen anderen Weg eingeschlagen. Und dieser Weg muss weitergegangen werden.

Aber geht der Weg wirklich weiter? Oder ist die Geschichte der EU mit den Kapiteln Montanunion, Wirtschaftsgemeinschaft und politische Zweckehe damit zu Ende erzählt? Ist ihr Mandat zur Gestaltung einer Zukunft, die besser sein soll als die jeweilige Gegenwart, ausgelaufen?

Robert Menasse: Ja, es schaut manchmal so aus. Das ist das Buddenbrooks-Prinzip: Eine Generation gründet etwas, die nächste Generation baut es aus und macht es groß, die dritte verwaltet es nur noch und die vierte fährt es an die Wand. Aber die EU ist keine Kaufmannsfamilie. Wenn sie aber so gesehen wird, ist ihr Schicksal besiegelt.

Was bräuchte es stattdessen?

Robert Menasse: Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum braucht eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Sonst wäre er Anarchie und Willkür. Die gemeinsame Währung braucht eine gemeinsame Währungs- und Finanzpolitik. Die Digitalisierung braucht gemeinsame Regeln – ununterbrochen kommt die Notwendigkeit von Gemeinschaftspolitik zurück. Denken wir die Realität weiter, kommen wir unweigerlich zu dem Punkt, dass wir, selbst wenn wir weniger wollen, es notwendigerweise auf mehr hinausläuft: auf einen gemeinsamen europäischen, aufgeklärt und gerecht geregelten Rechtszustand – und da sind wir wieder bei der Vision der Gründerväter.

Aber müssten sich die Mitgliedsstaaten zum Zweck der Stärkung der Gemeinschaft und im Sinne Ihres Zukunftsmodells eines „nachnationalistischen Gebildes“ in der Endkonsequenz nicht selbst abschaffen? 

Robert Menasse: Genau: Sie müssten sich selbst abschaffen. Aber wer will abgeschafft werden? Als der Euro eingeführt wurde, war das ein riesiger Integrationsschritt. Aber als es darum ging, ihn mit einer gemeinsamen Finanz-, Fiskal- und Budgetpolitik zu begleiten, was logisch gewesen wäre, sagten die nationalen Finanzminister: Damit würden wir uns abschaffen. Klar, dass sie dagegen waren. Das Ergebnis war die Euro-Krise.

Auf Basis des subsidiären Selbstverständnisses der Mitgliedsstaaten gilt das  auch für Gesundheits-, Sozial-, Währungs- und Verteidigungspolitik. Das führt zu kuriosen Wirklichkeiten, wie Sie in Ihrem Buch anführen.

Robert Menasse: Europäische Bürger und Bürgerinnen haben beispielsweise Niederlassungsfreiheit und eine Arbeitsbewilligung in allen Ländern der EU. Das war ein großer Fortschritt. Aber sie haben keine gemeinsame Sozialversicherung, denn es muss die „Einwanderung in nationale Sozialsysteme“ vermieden werden. Europäer sollen in Europa nicht einwandern – das versteht nur ein Nationalist. Oder jetzt bei den Wahlen: Die Europäer, die außerhalb ihrer Herkunftsnation in Europa arbeiten und Steuern zahlen, dürfen dort nicht wählen, zum Schutz der nationalen Demokratie. In manchen Ländern dürfen sie nicht einmal bei der Europawahl ihre Stimme abgeben. Dann müssen sie, um wählen zu können, „heim“ reisen, wo sie nicht arbeiten und keine Steuern zahlen. Oder wenn ein Österreicher in Madrid studiert, dort eine Erasmus-Studentin aus der Tschechischen Republik kennenlernt, die beiden sich verlieben und ein Kind bekommen, dann streiten sich drei Nationen darum, wer das Kindergeld bezahlen, besser gesagt nicht bezahlen muss.

Ist die EU nur eine Summe aus bürokratischen Systemfehlern?

Robert Menasse: Ein Systemwiderspruch, der im gegenwärtigen Zustand des Nicht-mehr-Noch-nicht begründet ist. Wir haben keine souveränen Nationalstaaten mehr, aber auch noch kein wirklich souveränes, demokratisches Europa. Die EU wird sich weiterentwickeln müssen und diesen Widerspruch aufheben, oder sie wird zerbrechen. 

Zur Person

Robert Menasse,  vielfach ausgezeichneter Autor, hat sich unter anderem in vier Büchern auf unterschiedliche Arten mit der EU und Brüssel auseinandergesetzt. Aktuell am Markt: „Die Welt von morgen“ (Suhrkamp Verlag).