EU-Fahnen wehen im Wind
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Heftige Nachbeben der Europawahlen

Die Herausforderungen für den gemeinsamen Markt sind dieselben geblieben, das Ergebnis der EU-Wahl könnte aber zu einem Kurswechsel führen. 

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Aktualisiert am 21.06.2024

Mit knapp 361 Millionen Wahlberechtigten war die Europawahl – nach Indien – die zweitgrößte demokratische Wahl der Welt. Das Ergebnis sorgt für nachhaltige Nachbeben. Insgesamt blieb zwar das proeuropäische Lager die mit Abstand größte Gruppe im Europaparlament, unter Druck gerieten die Märkte Analysten zufolge aber aufgrund des guten Abschneidens rechter und extrem rechter Parteien in mehreren Ländern. Das könnte den alten Kontinent wegen erschwerter politischer Handlungsfähigkeit weniger attraktiv für internationale Investoren machen, warnen Wirtschaftsforscher.

„Mit diesen Ergebnissen wird der Druck in vielen Mitgliedstaaten steigen, mehr Geld auszugeben – sei es für Investitionen, sei es für Umverteilung“, analysieren beispielsweise führende Volkswirte deutscher Banken vor der Gefahr einer neuen Schuldenkrise. Umgekehrt würden Projekte zur Stärkung der Union, für neue europäische Investitionen oder auch eine gemeinsame Industriepolitik jetzt eher ent- als beschleunigt werden, befürchten Experten.

Zumindest die ersten Reaktionen fielen tatsächlich eindeutig aus: Aktienindizes, Anleihen und auch der Euro notierten an den Tagen nach der Europawahl mit Verlusten. So verlor der Euro-Stoxx 50 bis Freitag nach dem Wahlsonntag insgesamt rund 4,2 Prozentpunkte. Auch der deutsche DAX ließ nach: Die drei Prozentpunkte Wochenverlust waren der höchste seit August vergangenen Jahres. 

„Mutige Schritte“

In Frankreich kam als Beschleunigungsmoment für die Talfahrt der Kurse die überraschende Ankündigung für vorgezogene Parlamentswahlen dazu. So gab der französische Leitindex, CAC 40, in diesen Tagen mehr ab, als er dieses Jahr gewonnen hatte. Ablesbar waren die Folgen des Wahlergebnisses auch an der Gemeinschaftswährung: Der Euro sank um 0,6 Prozent gegenüber dem US-Dollar.

Wie nachhaltig das Ergebnis auf die sich langsam erholende Konjunktur in Europa wirken wird, hängt vor allem auch von den programmatischen Schwerpunkten der neuen EU-Administration ab – und welche gegenseitigen Zugeständnisse sich die Parteien zur Mehrheitsbildung machen. „Europa braucht die Vollendung der Kapitalmarkt- und Bankenunion sowie mutige Schritte hin zum Aufbau einer europäischen Verteidigung“, drängt diesbezüglich der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Moritz Schularick. Denn in stürmischen Zeiten für die Weltwirtschaft könne nur eine starke EU europäische Interessen mit Nachdruck vertreten. „Europa kann nur erfolgreich sein, wenn die Bereitschaft besteht, nationale Interessen gelegentlich zurückzustellen und zu kooperieren“, gibt auch Clemens Fuest, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München (ifo), zu bedenken.

Tatsächlich bleibt die Verteidigung beziehungsweise Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit zentrales Thema. Unverändert auf der Agenda stehen damit die zentralen Forderungen nach leistbarer Energie, weniger Bürokratie (siehe Artikel rechts), einer Vertiefung des Binnenmarkts und  neuen Handelsabkommen, um die einseitige Abhängigkeit von Rohstoffen und Lieferketten zu minimieren. 

Weiter im Warteraum

Bei diesem letzten Punkt zeigen sich am Beispiel des Mercosur-Abkommens zwischen der EU und der südamerikanischen Wirtschaftszone die Hürden für eine gemeinschaftliche Linie: Zuletzt haben Frankreich und Österreich eine EU-weite Einigung verhindert. In beiden Ländern stehen Wahlen vor der Tür – mit einer schnellen Einigung ist damit weiter nicht zu rechnen. Weiter im Warteraum der EU warten müssen zudem wohl die Staaten des Westbalkans: Eine EU-Erweiterung in den kommenden fünf Jahren scheint unrealistisch.