
Teil 4/2. Soziale Errungenschaften: Vom Vorreiter zum Budgetsorgenkind
Mit seiner Sozialpolitik war Österreich lange Vorbild. Mittlerweile ist der Sozialstaat aufgrund steigender Kosten selbst zum Sozialfall geworden.
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Österreich als Sozialstaat-Europameister: Diesen Titel gab es am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Von der Regierung wurden Kinderarbeit und Nachtarbeit für Frauen verboten, die tägliche Arbeitszeit mit elf Stunden limitiert sowie zunächst eine Unfall- und Krankenversicherung für Arbeiter und Beamte (1888) und später auch eine Pensionsversicherung für Angestellte (1906) eingeführt. Damit war das Fundament für eine staatliche Sozialpolitik gelegt, deren Grundzüge heute noch wirken.
Auslöser für diese weitreichenden und nachhaltigen Reformen war der, von der Industrialisierung befeuerte, wirtschaftliche und soziale Aufschwung ab den 1850er-Jahren. Als „schattige“ Begleiterscheinung kam es damals zu einer Landflucht zu Lasten rasant wachsender Städte. Dort wucherten soziale Spannungen aufgrund schlechter Wohnbedingungen, langer Arbeitszeiten, geringer Löhne und mangelnder sozialer Absicherung. Die Arbeiterklasse forderte daher politischen Einfluss und Mitbestimmung – und bekam sie schrittweise zugestanden. Gewerkschaften und Arbeiterkammern wurden gegründet. Arbeiterrechte wurden gestärkt, der Arbeitsschutz intensiviert, Betriebsräte gegründet, der soziale Wohnbau vor allem in Wien vom damaligen Minister Ferdinand Hanusch forciert (in einem Jahrzehnt 60.000 neue Wohnungen), die Pensionsversicherung auf Angestellte ausgeweitet und die Land- und Forstarbeiter in das System aufgenommen.

Dafür wurde 1920 erstmalig auch eine Arbeitslosenversicherung eingeführt, die durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie staatliche Mittel finanziert war. Allerdings blieb diese Unterstützung zeitlich begrenzt. Nicht mehr Anspruchsberechtigte kippten aus dem System – und wurden zu sogenannten „Ausgesteuerten“, die auf öffentliche Fürsorge oder private Wohltätigkeit angewiesen waren.
Einen massiven Einschnitt brachten die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg. Sämtliche österreichischen Sozialversicherungsgesetze wurden außer Kraft gesetzt.

Nach 1945 kam es allerdings wieder zu einer „Austrifizierung der Sozialpolitik“, so Historikerin Michaela Tasotti. Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) wurde verabschiedet (1955), was zu einer schrittweisen Verdichtung der krankenversicherten Bevölkerung von 63 (1948) auf 98 Prozent (1980) führte. Das Pensionsalter bei Männern wurde auf 65 herabgesetzt, das Netz an Sozialleistungen vor allem unter den von Bruno Kreisky ab 1970 geführten Regierungen immer dichter. Und teurer. Budgets rutschten in die roten Zahlen, weil der Sozialstaat zwar ausgebaut wurde, parallel aber die Konjunktur zu humpeln begann. So setzte ab den 1980er-Jahren eine Phase der Differenzierung, Anpassung und teilweise Restriktion ein. Das Pensionsalter für Frauen wurde von 55 auf 60 Jahre erhöht, bei der Krankenversicherung wurden Selbstbehalte eingeführt und der Kündigungsschutz wurde gelockert. Dazu schränkten Budgetvorgaben aus Brüssel den nationalen Ausgabenspielraum zunehmend ein. Das Sozialsystem wurde selbst zum Sozialfall.

Nicht zuletzt aufgrund einer hohen und weiter steigenden Teilzeitquote, einer zunehmenden Überalterung der Bevölkerung und heftiger konjunktureller Turbulenzen ist das System indes an den Grenzen seiner Finanzierbarkeit angekommen.Die Sozialquote – also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt – stieg bereits ab 1960 kontinuierlich an. Betrug sie 1960 noch 17,2 Prozent, lag sie 1980 bereits bei 26,7 Prozent und stieg bis 1990 auf 27,6 Prozent. Zuletzt (2023) floss bereits fast ein Drittel des BIP, nämlich 146 Milliarden Euro, in Sozialausgaben.
Entspannung ist keine in Sicht. Denn der Druck auf diese den Sozialstaat tragenden Säulen wird aufgrund der demografischen Entwicklung nicht kleiner werden. Der Anteil der Über-65-Jährigen stieg von 36 Prozent 1971 auf mittlerweile 43 Prozent. Mittlerweile sind 15,4 Prozent aller Menschen in Österreich im Rentenalter. 2070 werden bereits fast drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner das Pensionsalter erreicht haben, das sind dann 28,8 Prozent der Gesamtbevölkerung. Neben der Pensionslücke machen auch die damit verbundenen steigenden Pflege- und Behandlungskosten das Sozialbudget mittlerweile zum Sorgenkind jeder Regierung. Bei jener, die in Kürze angelobt wird, wird es nicht anders sein.
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