"Wir haben es uns zu gemütlich gemacht"
Militäranalyst Franz-Stefan Gady über den Krieg in der Ukraine, die Zukunft der Neutralität und das wirtschaftliche Potential von Rüstungskooperationen.
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Sie sind gerade von den Frontlinien nach Kiew zurückgekehrt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?
Franz-Stefan Gady: Die Lage ist sehr ernst, aber nicht katastrophal. Es ist mit weiteren Gebietsverlusten der Ukrainer entlang der Frontlinie zu rechnen, weil die russischen Streitkräfte einen enormen Druck aufbauen. Die Verluste sind auf beiden Seiten relativ hoch.
Der Krieg geht nach 1.000 Tagen in seinen dritten Winter. Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?
Grundsätzlich sind die Ukrainer und Ukrainerinnen noch sehr motiviert, Widerstand zu leisten. Die entscheidende Frage ist jedoch, wie sich die kommenden Wochen und Monate entwickeln, wie die Ukraine durch den Winter kommt. Gibt es genügend Strom? Gibt es genügend Reserven, um die Ukraine durch den Winter zu bringen? Kann man eine zusätzliche Flüchtlingswelle nach Europa verhindern?
Haben wir es uns in Europa zuletzt in einer zwischen NATO-Schutz und pazifistischem Alltagsnarrativ aufgespannten Hängematte zu „gemütlich“ gemacht?
Ja, wir haben uns zu sehr darauf verlassen, dass wir in einer Welt leben, in der Krieg kein Teil internationaler Politik mehr ist. Vor allem im deutschsprachigen Raum haben wir es uns unter dem amerikanischen konventionellen nuklearen Schutzschirm sehr gemütlich gemacht. Wir haben quasi von einem hohen moralischen Ross herunter auf den Rest der Welt geschaut und gesagt: Wir haben den Krieg überwunden, wir müssen nicht mehr militärische Macht einsetzen, um unsere wirtschaftlichen Interessen zu wahren und durchzusetzen und internationale Politik zu betreiben. Dabei haben wir vergessen, dass wir das nur machen konnten, weil wir eben durch die Schutzmacht USA und vor allem deren erweiterten Arm in Europa – die NATO – geschützt sind.
Und in Österreich?
... haben wir es uns doppelt gemütlich gemacht, weil wir zwar nicht Teil der NATO sind, aber dennoch quasi annehmen, dass die NATO uns verteidigen wird, wir aber nichts dazu beitragen müssen.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einem „parasitären Pazifismus“.
Der macht aber nicht an der österreichischen Staatsgrenze Halt, sondern ist auch in Deutschland und anderen europäischen Staaten relevant und macht uns zu abhängig von den Vereinigten Staaten. Wir können unseren Wohlstand und unsere Lebensweise aber nur sichern, indem wir die jetzige europäische Sicherheitsarchitektur aufrechterhalten. Und da muss Österreich einen aktiven Beitrag leisten, auch auf militärischer Ebene. Da dürfen wir uns nicht hinter unserer sogenannten Neutralität verstecken.
Warum „sogenannt“?
Es gibt ein verklärtes 1970er-Jahre-Denken über die Neutralität, das aber keine wirklichen Antworten mehr auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts liefert. Unsere Neutralität im alten Sinn gibt es seit Beitritt zur Europäischen Union nicht mehr. Sie ist zwar teilweise immer noch identitätsstiftend, hat sich aber stetig gewandelt. Deshalb fordere ich eine offene Debatte zum Thema Neutralität.
Was kann Österreich zum Erhalt des Friedens in Europa beitragen?
Österreich kann durch eine kluge Sicherheitspolitik sehr viel zum Erhalt des Friedens beitragen, aber wir müssen Sicherheitspolitik neu denken. Sie besteht aus zwei Komponenten: einerseits einer gut durchdachten, strategischen Außenpolitik. Da gehört ein aktives diplomatisches Engagement dazu. In dieser Hinsicht machen wir sehr viel und sind gut. Die zweite wichtige Komponente ist die strategisch ausgerichtete Verteidigungspolitik – und die haben wir vernachlässigt. Dabei geht es vor allem um die konventionelle Abschreckung eines potenziellen Aggressors. Nur durch die Kombination der beiden Teile kann man nationale Interessen effektiv auf internationaler Ebene durchsetzen.
Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammenhang auf ihr milliardenschweres Beschaffungsprogramm 2032. Reicht das?
Ein Nachrüsten ist dringend notwendig. Und dieses Beschaffungsprogramm ist sehr gut und alle Dinge, die beschafft werden, sind auch dringend notwendig. Aber es geht hauptsächlich darum, Österreich vor hybriden Bedrohungen wie Cyberangriffen, Marschflugkörpern oder Drohnen zu schützen. Der nächste Aufbauplan für nach 2032 sollte auch auf konventionelle Gegner ausgerichtet sein. Darin steckt auch viel wirtschaftliches Potential.
Wie könnte man das nutzen?
Ich würde mir mehr Mut für Rüstungskooperationen wünschen. Das heißt, dass wir die teilweisen Nischenplayer innerhalb der österreichischen Rüstungsindustrie forcieren. Es sollte hier auf politischer Ebene weniger Berührungsängste geben, auch Rüstungskooperationen einzufordern als Teil unserer Nachbeschaffungen.