Verschiedene Fahnenmasten mit unterschiedlichen Flaggen Europas wehen im Wind bei einem blauen Himmel
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Sparte Industrie

Die Wettbewerbsfähigkeit Europas

Lesedauer: 4 Minuten

27.09.2024

Internationale Wettbewerbsfähigkeit ist kein Selbstzweck oder das Eigeninteresse exportorientierter Unternehmen, sondern die Voraussetzung für Beschäftigung, Einkommenssicherheit und für ein hohes Maß an sozialer Absicherung. Von der EU beauftragt, hat der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi kürzlich einen Bericht vorgelegt, der die europäische Blickrichtung (wieder) auf Wettbewerbsfähigkeit lenken soll.

Die Europäische Union (EU) hat das neue Jahrtausend mit der sogenannten „Lissabon-Strategie“ begonnen, die im März 2000 in der portugiesischen Hauptstadt vereinbart worden war. Das Ziel dieser Strategie war, Europa bis zum Jahr zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu machen. Da Ziel wurde verfehlt, und daher mit „Europa 2020“ ein Nachfolgeprogramm vorgestellt – das noch weniger Resonanz gefunden hat.  

Die Europäische Union hat seit der Jahrtausendwende an Wettbewerbsfähigkeit verloren, zuletzt mit zunehmender Geschwindigkeit. Dass dies anfangs noch wenig bemerkbar war, ist im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen: Der Stärke in Branchen, die zu Beginn des Jahrtausends noch Innovationstreiber waren, und dem starken Wachstum auf den europäischen Exportmärkten in Ostasien. Die Herausbildung neuer Innovationsschwerpunkte, Veränderungen auf den Exportmärkten und eine markante Erhöhung der Energiekosten haben die Wettbewerbsfähigkeit Europas verschlechtert. 

Der Draghi-Bericht kommt somit zu einem wichtigen Zeitpunkt, in dem einerseits diese Verschlechterung klar zutage tritt und damit auch zu einem politischen und gesellschaftlichen Diskussionsthema wird. Diese Diskussion wurde jüngst beispielsweise durch die Überlegungen des Volkswagen-Konzerns, erstmals in seiner Geschichte Werke in Deutschland zu schließen, befeuert. Andererseits wird (voraussichtlich) mit Anfang November 2024 eine neue EU-Kommission ihre Arbeit aufnehmen und gerade hinsichtlich der mittel- und längerfristiger Wettbewerbsfähigkeit Europas bedeutende Weichenstellungen vornehmen.  

Jedenfalls sieht der Draghi-Bericht einen akuten Handlungsbedarf, der sich primär an die neue Kommission richtet. Gleichzeitig sind aber auch die nationalen europäischen Regierungen gefordert, ganz im Sinne der - im Bericht verlangten – verbesserten Koordination der Politik. Nachdem die neue Legislaturperiode in Österreich parallel zur neuen Amtszeit der EU-Kommission läuft, wäre insbesondere eine neue österreichische Bundesregierung sehr gut beraten, die Eckpunkte des Draghi-Berichts im eigenen Regierungsprogramm zu berücksichtigen. 

Drei zentrale Herausforderungen … 

Als erste zentrale Herausforderung nennt der Draghi-Bericht die Verkleinerung der Innovationslücke zu den USA und – zunehmend auch – China, insbesondere im Bereich fortgeschrittener Technologien. Die entsprechende Position Europas hat sich gegenüber den USA zu Beginn des Jahrtausends etwas verbessert, in den letzten Jahren ist die Innovationslücke aber wieder gewachsen. Gleichzeitig hat sich China zu einer Innovationsmacht entwickelt und den Rückstand gegenüber den USA und Europa in bemerkenswerter Weise verringert.  Einen Rückstand hat Europa insbesondere in Zukunftsbereichen, wie IoT (Internet of Things), AI (Artificial Intelligence) und Cybersecurity. Alarmierend ist, dass Europa auch seinen Vorsprung in den Green Technologies langsam verliert. 

Die politischen Ansatzpunkte in diesem Bereich sind vielfältig, vielfach auch nicht neu. Im Zentrum steht die Forderung, Forschung und Innovation zu einer Priorität im Zielsystem der europäischen Politik zu machen. In der Vergangenheit sind Ansätze oft daran gescheitert, dass bei einem Übermaß an gut gemeinten Zielen die Prioritätensetzung nicht funktioniert hat. Hervorgehoben wird auch die zu geringe Hebelwirkung öffentlicher Forschungsmittel, deren Vergabe zu stark fragmentiert ist. Die Herausbildung stärkerer europäischer Forschungsstrukturen und der Entfall (nationaler) Barrieren und Regulatorien sollte bewirken, dass in jeder Hinsicht „größer“ gedacht werden kann – von größeren Forschungsprojekten bis hin zu größeren Märkten. Größer gedacht werden müsste auch bei den Ausbildungseinrichtungen, wo nur wenige europäische Institutionen  zu den globalen Spitzenreitern zählen. Das Problem der mangelnden Risikokapitalfinanzierungen in Europa steht in der Zusammenfassung des entsprechenden Punktes an erster Stelle – mit zahlreichen Vorschlägen betreffend Anreize für Privatkapital und öffentliche Finanzierungen. 

Die zweite Herausforderung ist die Zusammenführung der Strategien der Entkarbonisierung und der Wettbewerbsstärkung. Hier wird ein enorm wichtiger Punkt angesprochen, denn ohne (anhaltende) Wettbewerbsfähigkeit Europas sind die ehrgeizigen Klimaziele nicht finanzierbar, und wohl auch der politische Rückhalt für entsprechende Maßnahmen nicht aufrecht zu erhalten. Eine enorme Herausforderung ist die Durchführung der Entkarbonisierung zu einem Zeitpunkt, in dem die Strompreise der Industrie in Europa bereits um rund 160 % über jenen der USA liegen, und die Gaspreise sogar um rund 350 %. Der Draghi-Bericht führt dies zu einem wesentlichen Teil auf Marktkonzentration und fehlende Marktregulierung zurück. 

Die Antwort des Draghi-Berichts zu den Herausforderungen im Energiebereich, zielen – sehr allgemein zusammengefasst  - in drei Richtungen: Senkung der Energiekosten durch Marktoptimierungen, Verringerungen der extrem hohen Steuerlasten auf Energie und koordiniertem Ausbau der Energieproduktion; Beschleunigung der Entkarbonisierung durch weitgehende Technologieoffenheit in der Umsetzung; und schließlich Bewahrung der industriellen Basis Europas durch entsprechende Maßnahmen des Ausgleichs internationaler Ungleichgewichte aufgrund einseitiger Förderungen und/oder unterschiedlicher Pfade der Entkarbonisierung. Die vielfach sehr detailliert vorgelegten Vorschläge stellen eine gute Richtschnur für politische Handlungen dar, anhand der die tatsächlichen Maßnahmen der Europäischen Union und der EU-Mitgliedsländer künftig gemessen werden sollten. 

Sicherheit und die Reduktion von Abhängigkeiten lautet die dritte zentrale Herausforderung, die der Draghi-Bericht identifiziert. Angesichts eines komplexer gewordenen globalen Umfelds hat sich die Bedeutung dieses Themas zuletzt erheblich vergrößert. Europa hat als rohstoffarmer Kontinent naturgemäß ein hohes Maß an Abhängigkeit hinsichtlich der Versorgung mit (Energie-)Rohstoffen. Gleichzeitig hat Europa in den letzten Jahrzehnten die Mittel für Verteidigung deutlich reduziert und damit auch die Basis für die industrielle Produktion von Rüstungsgütern vermindert. 

Vorgeschlagen wird eine Diversifizierung der Bezugsquellen von Rohstoffen (insbesondere von sogenannten „kritischen Rohstoffen“)  bei gleichzeitig verstärkter Nutzung europäischer Quellen, etwa durch verbessertes, länderübergreifendes Recycling. Hinsicht der Rüstungsindustrie (und auch der Raumfahrtindustrie) soll die Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union erheblich ausgeweitet werden und damit eine Reduktion der Abhängigkeit von Drittstaaten erfolgen. 

… und ein Preiszettel 

Klar ist, dass viele der – sinnvollen – Vorschläge zusätzliches Geld kosten. Mario Draghi nennt im Bericht einen Betrag von mindestens 750 bis 800 Millionen Euro pro Jahr. Dies wurde vielfach missverstanden als öffentlicher Investitionsbedarf, aber vier Fünftel davon sollten private (Unternehmens-) Investitionen sein. Dies wird gleichzeitig ein Prüfstein, denn Unternehmen investieren nur, wenn sie von der anhaltenden Wettbewerbsfähigkeit eines Standorts überzeugt sind. Um also entsprechende Investitionsvolumina zu generieren, musst die Politik der Europäischen Union entsprechend glaubwürdig sein, realistische Ziele verfolgen und mit den Nationalstaaten gut abgestimmt sein. Dies wird eine große Herausforderung darstellen. Wohl eine größere als die Frage, ob das Fünftel der Finanzierung seitens der Europäischen Union durch gemeinsame Schulden oder entsprechende Beiträge der Mitgliedsländer aufgebracht werden soll. 

Autor:

Mag. Andreas Mörk
E-Mail: andreas.moerk@wko.at