Neuerlicher EU-Alleingang mit verschärftem Klimaziel 2030
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlug in ihrer Rede zur Lage der Union am 16.9.2020 die Erhöhung des 2030-Ziels von derzeit 40% auf „mindestens 55%“ fest.
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Ambition, Ehrgeiz und Engagement sind grundsätzlich positiv, vor allem wenn es um die Bewältigung der Klimakrise geht. Es scheint aber, als ginge in der EU-Klimapolitik in diesen Tagen das Augenmaß verloren. Wie kann man als engagierter Politiker oder als überzeugter Klima-Aktivist bei einem europäischen Anteil von weniger als 10% an den globalen Treibhausgasemissionen von einem „Meilenstein des internationalen Klimaschutzes“ sprechen und sich darüber freuen, dass die EU im Alleingang ihr ohnedies bereits ambitioniertes Reduktionsziel für 2030 von 40% auf zumindest 55% verschärft? Weshalb soll eine noch höhere EU-Verpflichtung andere Player, wie vor allem China oder die USA, zu verstärktem eigenen Engagement bewegen? Und wie soll die von der COVID-19-Krise stark getroffene europäische Industrie in der Kalkulation dringend notwendiger Investitionsprojekte mit dem erhöhten Standort- und Wettbewerbsdruck und den höheren Kosten umgehen, die sich aus einer neuerlichen Änderung des energie- und klimapolitischen Gesetzesrahmens ergeben werden?
EU-Parlament erhöht Druck auf Kommission und Rat
Der Präsentation der Kommissionsmitteilung „Mehr Ehrgeiz für das Klimaziel Europas bis 2030“ inklusive Folgenabschätzung am Tag nach der Ankündigung waren die Abstimmungen im Europäischen Parlament zum EU Climate Law einige Tage zuvor vorausgegangen. Neben dem Ziel, bis 2050 Klimaneutralität (Netto-Null) zu erreichen, hatte die Kommission im Entwurf im März dieses Jahres das aus dem European Green Deal abgeleitete Ziel einer Erhöhung auf 50-55% angepeilt. Während sich nun der Industrieausschuss mit hauchdünner Mehrheit für „at least 55%“ aussprach, forderte der Umweltausschuss gleich eine Zielverschärfung auf 60% - und das, noch bevor die Wirkungsfolgenabschätzung der Kommission zur Zielerhöhung verfügbar war. Die Vorzeichen für die Plenarabstimmung Anfang Oktober sind also höchst anspruchsvoll, bevor im Rat Mitte Oktober die allgemeine Ausrichtung erfolgen soll, und die Trilogverhandlungen starten. Die deutsche Ratspräsidentschaft strebt eine Einigung noch in diesem Jahr an.
Im Laufe der kommenden Monate wird die Kommission dann die zentralen energie- und klimagesetzlichen Rahmenbedingungen evaluieren und bis Juni 2021 entsprechende Änderungsvorschläge in Bezug auf das neue Ziel vorlegen. Konkret verwies von der Leyen dabei auf eine Stärkung des Emissionshandels, den Ausbau der erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und die Reform der Energiebesteuerung. Ein CO2-Grenzausgleich werde ausländische Hersteller dazu zwingen, ihren CO2-Ausstoß zu verringern und gleiche, WTO-konforme Wettbewerbsbedingungen schaffen.
Industrie muss wettbewerbsfähig bleiben
Keine Frage, Klimaschutz als wichtigen Teil der Green Recovery mitzudenken, macht Sinn. Die Industrie muss aber am Standort Europa international wettbewerbsfähig bleiben. Denn verliert Europa seine industrielle Basis, ist für den Klimaschutz nichts gewonnen, und es kommen gravierende negative wirtschaftliche und soziale Folgen hinzu. Die Industrie steht aber derzeit vor einer Mammutaufgabe, zu deren Bewältigung sie weitreichende Unterstützung benötigt: Denn weder sind die für die verstärkte Elektrifizierung industrieller Prozesse notwendigen Mengen an erneuerbarer Energie zu kompetitiven Kosten vorhanden, noch stehen die zur umfassenden Dekarbonisierung erforderlichen Breakthrough-Technologien im industriellen Maßstab zur Verfügung. Darüber hinaus wird der Carbon-Leakage-Schutz, also der Schutz gegen Verlagerung von Produktionen und Emissionen, durch das verschärfte Ziel und die damit verbundene Kürzung der freien Zuteilung im Emissionshandel, massiv eingeschränkt. Und ein wirksamer, WTO-konformer CO2-Grenzausgleichsmechanismus, der die Kostennachteile der EU-Industrie zumindest am europäischen Markt neutralisieren soll, ist kurzfristig wohl kaum realisierbar. Es ergeht daher der Appell an die Bundesregierung, das im Regierungsprogramm mit Formulierungen wie „Der Wirtschaftsstandort Österreich soll international wettbewerbsfähig bleiben, um Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Österreich zu halten und auszubauen“ gegebene Commitment auch bei diesem Thema als Rote Linie einzuhalten.
Autor: DI Oliver Dworak
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