Im Vordergrund sind Solaranlagen auf einer Wiese. Dahinter sind Windräder im Licht der Dämmerung.
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Reformen des europäischen Strom- und Gasmarkts

Die EU-Mitgliedstaaten stimmten für umfassende Reformen des europäischen Strom- und Gasmarkts sowie einen neuen Rechtsrahmen zur Förderung von Wasserstoff und anderen dekarbonisierten Gasen. Diese Maßnahmen sollen die Energieversorgung in Europa sicherer, nachhaltiger und wettbewerbsfähiger machen.

Lesedauer: 5 Minuten

09.09.2024

Reformen des Strommarkts

Auslöser für die Reform war der extreme Anstieg der Strompreise im Jahr 2022, verursacht durch explodierende Gaspreise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und den Ausfall zahlreicher französischer Atomkraftwerke. Ziel ist es, die Abhängigkeit der EU von fossilen Brennstoffen für die Stromerzeugung schrittweise zu beenden. Dies soll durch die Förderung langfristiger Verträge und die Integration erneuerbarer Energien im gesamten Stromnetz erreicht werden. Ein weiterer Aspekt ist die Einführung neuer Vorschriften für den Umgang mit Strompreiskrisen, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen sollen, temporäre, regulierte Preise einzuführen, um Verbraucher und Verbraucherinnen vor übermäßig hohen Kosten zu schützen.

Sicherung der Energieversorgung und Preisstabilität im Fokus

Ein wesentlicher Bestandteil ist die Förderung langfristiger Marktinstrumente wie Strombezugsverträge (Power Purchase Agreements, PPA) und zweiseitige Differenzverträge (Contracts for Difference, CfDs). PPAs sind Vereinbarungen, bei denen Käufer*innen den Strom direkt von einem Energieerzeuger kaufen. Mit ihnen wird der Preis für den gelieferten Strom über die Vertragslaufzeit fixiert, wodurch Abnehmende vor kurzfristigen Preisschwankungen auf dem Spotmarkt geschützt werden und Erzeugende eine gesicherte Einnahmequelle erhalten. CfDs wiederum garantieren Erzeugern erneuerbarer Energien einen Mindestpreis für ihren Strom, wobei der Staat die Differenz ausgleicht, wenn der Marktpreis unter den vereinbarten Preis fällt, und Überschüsse erhält, wenn der Preis darüber liegt. Beide Mechanismen schaffen stabile Preise, Planungssicherheit und machen Investitionen in erneuerbare Energien attraktiver und wirtschaftlich rentabler.

Wesentliches Element: Kapazitätsvergütungsmechanismen und Versorgungssicherheit

Frankreich hat im EU-Rat erreicht, dass CfDs auch für bestehende Anlagen genutzt werden können. Durch das sogenannte "Repowering" – die Erhöhung der Kapazität und die Verlängerung der Laufzeit bestehender Kraftwerke – besteht daher die Möglichkeit, auch Atomkraft staatlich zu fördern. Außerdem macht die Reform Kapazitätsvergütungsmechanismen zu einem strukturell ausgerichteten Element des Elektrizitätsmarkts. Diese sind darauf ausgelegt, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, indem sie Energieerzeugern Zahlungen anbieten, um ausreichend Erzeugungskapazität bereitzustellen. So soll sichergestellt werden, dass genügend Erzeugungskapazität vorhanden ist, um Spitzenlasten abzudecken und Netzstabilität zu gewährleisten, insbesondere in Zeiten hoher Nachfrage oder bei Ausfällen anderer Energiequellen. Kontrovers ist, dass eine Ausnahme von den CO2-Emissionsgrenzwerten für bereits genehmigte Kapazitätsmechanismen eingeführt wurde. Dies bedeutet, dass auch ältere Kraftwerke weiterhin Kapazitätszahlungen erhalten, obwohl sie höhere Emissionen verursachen.

Um die Versorgungssicherheit zu verbessern, soll die Netzflexibilität erhöht werden, zum Beispiel durch:

  • Förderung von Demand Response, also Maßnahmen zur Laststeuerung, die es den Verbrauchern ermöglichen, ihren Stromverbrauch zu Zeiten niedrigerer Nachfrage zu verlagern, um das Netz zu entlasten und die Integration erneuerbarer Energien zu verbessern;
  • Energiespeicherlösungen, die durch finanzielle Anreize und regulatorische Erleichterungen gefördert werden;
  • Flexible Marktmechanismen bzw. Systeme, die es dem Strommarkt ermöglichen, effizienter auf Preissignale und Schwankungen in Angebot und Nachfrage zu reagieren. Dies umfasst unter anderem die Förderung von Smart Grids und intelligenten Messsystemen.
  • Mehr Verbraucherschutz

Verbraucher sollen künftig eine größere Auswahl an Verträgen und klarere Informationen vor Vertragsabschluss erhalten. Sie können sich an sichere, langfristige Preisverträge binden und dynamische Preisverträge abschließen, die Preisschwankungen besser nutzen. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass keiner ohne Stromversorgung bleibt, und schutzbedürftige Personen vor Versorgungsunterbrechungen schützen. Anbieter dürfen die Vertragsbedingungen nicht einseitig ändern. Im Falle einer Strompreiskrise können die Strompreise für schutzbedürftige Kundschaften gesenkt werden.

Paket "Dekarbonisierte Gase und Wasserstoff"

Der neue Wasserstoffrahmen soll die Versorgungssicherheit weiter verbessern und die EU-Klimaziele unterstützen. Dazu sollen die Nutzung und Produktion dekarbonisierter Gase und Wasserstoff erhöht werden. Die neuen Regelungen umfassen mehrere Maßnahmen, mit denen Infrastruktur und der Markt für dekarbonisierte Gase und Wasserstoff ausgebaut wird.

Grenzüberschreitender Handel und Infrastrukturentwicklung

Ziel ist es, Wasserstoff kosteneffizient aus Produktionsgebieten zu Industriebetrieben zu transportieren, die ihn benötigen. Netzplanungsverfahren sollen gestrafft und die grenzübergreifende Koordination gefördert werden. Die neuen Vorschriften sollen den Handel mit erneuerbaren und CO2-armen Gasen verbessern und deren Marktzugang erleichtern. Dazu gehören Rabatte auf grenzüberschreitende Tarife und die Einführung gemeinsamer Standards für die Gasqualität. Ein dauerhafter Mechanismus zur Bündelung der Nachfrage und gemeinsamen Beschaffung von Gas wird ebenso eingeführt wie ein auf fünf Jahre angelegter Pilotmechanismus, der die Marktentwicklung für Wasserstoff unterstützen und die Markttransparenz verbessern soll. Nationale Wasserstoffnetzbetreiber müssen Zehnjahresnetzentwicklungspläne vorlegen und diese regelmäßig aktualisieren.

Außerdem wird ein Zertifizierungssystem für CO2-arme Gase, einschließlich Wasserstoff, eingeführt, das gleiche Wettbewerbsbedingungen und Kohärenz bei der Bewertung des Treibhausgas-Fußabdrucks verschiedener Gase gewährleisten soll. Dieses System wird sowohl für Importe als auch für die inländische Produktion gelten, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.

Regelungen zum schrittweisen Ausstieg aus fossilem Gas

  • Begrenzung langfristiger Gasverträge ohne CO2-Abscheidung und -Speicherung bis 2049: Gasverträge, die keine Maßnahmen zur Abscheidung und Speicherung von CO2 (CCS - Carbon Capture and Storage) beinhalten, dürfen nur bis zum Jahr 2049 laufen. Das bedeutet, dass nach diesem Datum keine neuen Verträge abgeschlossen oder bestehende Verträge verlängert werden können, wenn sie keine CO2-Reduktionstechnologien verwenden.
  • Vermeidung von Lock-in-Effekten und verlorenen Vermögenswerten: Lock-in-Effekte entstünden, wenn Infrastrukturinvestitionen auf fossile Brennstoffe festgelegt werden und dadurch zukünftige Umstellungen auf erneuerbare Energien behindert werden. Durch die Begrenzung der Laufzeit von Gasverträgen soll verhindert werden, dass langfristig in fossile Gasinfrastruktur investiert wird, die die Umstellung auf erneuerbare Energien behindern könnte. Verlorene Vermögenswerte (Stranded Assets) entstünden, wenn Investitionen in fossile Brennstoffe an Wert verlieren, weil sie durch politische Maßnahmen, wie die Reduktion von CO2-Emissionen, obsolet werden. Durch die Begrenzung langfristiger Gasverträge soll sichergestellt werden, dass Investitionen in fossile Brennstoffe nicht plötzlich wertlos werden, wenn strengere Umweltvorschriften eingeführt werden.
  • Schaffung von Anreizen für erneuerbare und CO2-arme Gase: Indem die Laufzeit von Gasverträgen ohne CO2-Abscheidung begrenzt wird, werden Unternehmen ermutigt, in erneuerbare und CO2-arme Gase zu investieren. Dies bedeutet, dass Unternehmen eher bereit sein werden, in Technologien und Infrastruktur zu investieren, die auf erneuerbare Energien und CO2-arme Lösungen setzen, um zukünftige Kosten und Wertverluste zu vermeiden.

Außerdem stärken die überarbeiteten Gasvorschriften die Verbraucherrechte und den Verbraucherschutz. Verbraucher*innen erhalten klarere Informationen über Verträge und Rechnungen, können Anbieter leichter wechseln und haben Zugang zu Preisvergleichsinstrumenten. Bei einer Erdgaspreiskrise können die Mitgliedstaaten wirksame Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher ergreifen, um den Zugang zu erschwinglicher Energie sicherzustellen.

Subventionen anderer Technologien

Umweltverbände kritisieren, dass das Ziel der Reform, den Ausbau und die Einspeisung erneuerbarer Energien zu fördern und den Strommarkt von fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl und Gas hin zu erneuerbaren Energien umzustellen, nicht erreicht wurde. Besonders die Ausnahme von den CO2-Emissionsgrenzwerten für bereits genehmigte Kapazitätsmechanismen stößt auf starke Kritik.

Umweltverbände befürchten, dass die Reformen die Bemühungen zur Bewältigung der Klimakrise behindern könnten, indem sie Subventionen für fossile Brennstoffe fortsetzen. Es wird gefordert, den Fokus stärker auf erneuerbare Energien zu legen und Subventionen für umweltschädliche Technologien vollständig zu vermeiden. 

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