Neue Märkte durch EU-Erweiterung
Die Aufnahme weiterer Länder in die Europäische Union würde Wiener Unternehmen viele Vorteile bringen - etwa bei der Einstellung von Fachkräften oder beim Export. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
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Im Bild: ANTS-IN-Geschäftsführer Adrien Gundogan mit seiner Schwester und Finanzchefin des Unternehmens, Nalan Gundogan (r.), und PR-Leiterin Lea Gereg (l.).
Sieben Erweiterungsrunden hat die Europäische Union (EU) schon hinter sich - aus einst sechs Gründungsmitgliedern im Jahr 1958 wurden 27 Mitgliedstaaten. Und die nächsten Erweiterungsschritte sind schon in Vorbereitung: Derzeit wollen zehn europäische Länder der EU beitreten - mit einigen wird zum Teil schon seit sehr vielen Jahren verhandelt (Türkei, Serbien), andere haben noch gar nicht den Status eines Beitrittskandidaten erreicht. Wirtschaftlich sind die nächsten Erweiterungsschritte von einschneidender Bedeutung. Einerseits, weil mit den Staaten am Westbalkan Länder in die EU wollen, mit denen die österreichische Wirtschaft schon gut verflochten ist. Andererseits, weil mit der Türkei ein Land Mitglied werden möchte, das mehr Einwohner hat als jedes andere EU-Land. Und mit der Ukraine wurde ein Land im Krieg im Eilzugstempo zum Beitrittskandidaten. Auf Basis der derzeitigen EU-Strukturen wäre keines der zehn beitrittswilligen Länder ein Netto-Zahler - es würden also mehr Förderungen in diese Länder fließen als durch die Mitgliedschaft beigetragen wird.
Chancen für Wiener Betriebe
Aus Sicht der Wiener Betriebe würden die nächsten EU-Erweiterungen dennoch eine große wirtschaftliche Chance darstellen, wie etwa das Wiener Transport- und Logistikunternehmen ANTS-IN berichtet: „Derzeit haben wir nur einzelne Sendungen aus dem Westbalkan - das wäre anders, wenn alle Länder der Region Teil der EU wären”, sagt Geschäftsführer Adrien Gundogan. Nicht nur, dass die Transporte durch die wegfallende Zollgrenze wesentlich einfacher und schneller, mit weniger Papieren und zu geringeren Kosten zu schaffen wären - die Mitgliedschaft in der EU brächte diesen Ländern auch ein zusätzliches Wirtschaftswachstum und eine höhere Kaufkraft, „und das hat großen Einfluss auf Transporte”, sagt Gundogan. ANTS-IN wurde 2018 von Adrien Gundogans Schwester, Nalan Gundogan, in Wien gegründet - sie ist für die Finanzen verantwortlich. Die Familie ist aus Frankreich nach Wien gekommen und hat Wurzeln in der Türkei. Mit der Türkei hat die EU seit Jahren ein wechselhaftes Verhältnis. Den Beitrittsantrag stellte das Land am Bosporus bereits 1987, den Status als Beitrittskandidat bekam es allerdings erst 1999. Seit 2005 laufen auch Beitrittsverhandlungen - abgeschlossen sind sie aber noch lange nicht. In letzter Zeit sind keine Fortschritte erkennbar.
ANTS-IN betrachtet die Türkei als einen Markt mit zunehmendem Potenzial, er verdiene eine strategische Positionierung. „Das ist schon seit mehreren Jahren Teil unserer strategischen Ziele, wir mussten sie aufgrund der Corona-Pandemie aber zurückstellen”, sagt Nalan Gundogan. Die Türkei sei kein einfacher Markt, man könne ihn nicht nebenbei machen. Wahrscheinlich werde die Gründung einer eigenen Niederlassung notwendig werden. Eine deutliche Erleichterung brächte die EU-Erweiterung bei der Personalsuche des Unternehmens: „2018 haben wir zu fünft begonnen, heute sind wir knapp 50 Mitarbeiter”, sagt Lea Gereg, die beim Aufbau von ANTS-IN von Beginn an mitgearbeitet hat und heute für Öffentlichkeitsarbeit, Personal- und Rechtsfragen zuständig ist. „Die Einstellung von Mitarbeitern aus Drittstaaten ist sehr schwierig - vor allem abseits der Mangelberufsliste”, erklärt Gereg. Behördenbewilligungen, Aufenthaltsgenehmigungen, diverse Nachweise - vieles sei zu beachten, bevor man sie aufnehmen könne. „Das kostet viel Zeit und verzögert die Einstellung oft erheblich - und verhindert sie auch manchmal”, sagt Gereg. Derzeit sei man etwa auf der schwierigen Suche nach Lkw-Fahrern. ANTS-IN transportiert vor allem Lebensmittel und Verbrauchsartikel des Einzelhandels quer durch Europa. „Wir lassen uns vom Markt führen und folgen unserem Instinkt”, sagt Adrien Gundogan. Und man setze auf Vielsprachigkeit: Derzeit könne man 27 Sprachen mit den eigenen Mitarbeitern abdecken.
Montenegro bald bereit
Welches Land als nächstes der EU beitreten kann, ist noch nicht beschlossen. Richard Grieveson, EU-Erweiterungsexperte und stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), erwartet, dass Montenegro 2030 das Rennen machen wird (siehe Interview). „Serbien könnte ebenfalls recht bald bereit sein, obwohl dies von einer Lösung mit dem Kosovo abhängt, die aus heutiger Sicht sehr schwierig erscheint”, sagt Grieveson. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine beschleunige den Erweiterungsprozess zwar tendenziell, bilaterale Streitigkeiten wie zwischen Bulgarien und Nordmazedonien könnten aber viel Zeit kosten. Diese Zeit könne man sinnvoll nutzen: „Es könnte noch viel mehr getan werden, um die Integration der Kandidatenländer in den Binnenmarkt vor dem Beitritt zu vertiefen und mehr EU-Mittel für die Verbesserung der Infrastruktur in diesen Ländern bereitzustellen. Wenn dies geschehen würde, wären wahrscheinlich mehr Investoren aus Wien undanderen westlichen Märkten interessiert, was die Wirtschaft der Kandidatenländer im Vorfeld des Beitritts ankurbeln würde”, so der Experte. Das Ziel solle jedoch immer der EU-Beitritt sein. Wiens Rolle als eines der wichtigsten Wirtschafts- und Finanzzentren in CEE würde dadurch nur gestärkt werden.