
Aufbruch in ein neues Leben
Wien bleibt Österreichs Gründungshochburg: im Vorjahr wurden hier mehr Unternehmen gegründet als je zuvor. Was Wiens Jungunternehmer antreibt und was es jetzt braucht, um den Schritt in die Selbstständigkeit weiter zu erleichtern.
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Sich zur Ruhe zu setzen, war für Regina Güler undenkbar. Nach ihrer beruflichen Karriere wollte sie deshalb ihren Traum vom eigenen Modegeschäft verwirklichen. „Die Kinder waren aus dem Haus und ich dachte mir, wer nicht wagt, der nicht gewinnt”, erzählt sie. Nicht nur einmal habe sie gehört: „Du bist doch verrückt”. Im Herbst 2024 eröffnete sie „Gina’s Moden” in Atzgersdorf. Güler setzt dort bewusst auf außergewöhnliche Fashion. „Normal kann jeder. Meine Mode ist vor allem für Frauen gedacht, die auch einmal über den modischen Tellerrand hinausschauen und es sich wert sind, außergewöhnlich auszusehen.” Auch für Herren und Kinder hat sie ein kleines Sortiment, außerdem Schmuck und außergewöhnliche Taschen, die - wie alle ihre Kollektionen - aus Italien kommen. Apropos außergewöhnlich: Wer eine Tasche in Form einer Milchflasche oder eines Hundes sucht, wird hier fündig. „Bei den Hunde-Taschen gibt es auch verschiedene Rassen”, schmunzelt die modeaffine Shop-besitzerin.
All-Time-High an Gründungen
Die Modehändlerin ist eine von 10.048 Jungunternehmern, die im Vorjahr in Wien den Schritt in die Selbstständigkeit getan haben - um knapp 500 oder fünf Prozent mehr als 2023 und ein All-Time-High. Rein rechnerisch wurden 2024 somit pro Tag 27,5 neue Betriebe gegründet. Wien verbuchte ein Viertel aller bundesweiten Neugründungen - 2023 lag der Anteil noch bei 23,3 Prozent. „Das unterstreicht einmal mehr die Position Wiens als Österreichs Gründerhochburg”, sagt Wirtschaftskammer Wien-Präsident Walter Ruck. Eine hohe Gründungsintensität sei durchwegs positiv für die Wirtschaft. „Neue Unternehmen bringen frische Ideen und Impulse. Wer gründet, beweist Tatendrang, Innovationsgeist, Verantwortungsbewusstsein, Mut zum Risiko - alles Faktoren, die den Wirtschaftsstandort beflügeln und voranbringen”, betont Ruck.
Wien verbuchte ein Viertel aller bundesweiten Neugründungen. Das unterstreicht einmal mehr die Position Wiens als Österreichs Gründerhochburg

Walter Ruck
Präsident der Wirtschaftskammer Wien
Drei von vier neu gegründeten Unternehmen sind Einzelunternehmen, in denen die Gründer Alleininhaber sind und unter eigenem Namen auftreten. 43 Prozent davon sind in weiblicher Hand. Die meisten Gründungen entfielen auf die Branchen Unternehmensberatung, Buchhaltung, IT vor dem Bereich Werbung und dem Versand-, Internet- und allgemeinen Handel. Top-Gründungsmotiv ist - für 71 Prozent der Jungunternehmer - der Wunsch nach flexibler Zeit- und Lebensgestaltung. Vor zwei Jahren war es noch der häufigste Antrieb, sein eigener Chef sein zu wollen (siehe auch Grafik).
Digitales Arbeiten als Stärke
Auch Alexander Stahl schätzt die Möglichkeiten und die Freiheit, die ihm die Selbstständigkeit bietet. „Es gibt keine Grenze nach oben. Man kann sich Ziele setzen und diese durch eigene Anstrengung auch erreichen”, sagt der Jungunternehmer, der im Vorjahr seinen Umzugs- und Möbelmontage-Service Stahl + Söhne gründete und mittlerweile sieben Mitarbeiter beschäftigt. Stahl setzt auf digitales Arbeiten, von den Anfragen über Terminvereinbarungen bis zur Abwicklung von Offerten und Rechnungen. „In der Branche ist das noch nicht Standard”, sagt er. Es helfe aber, die Professionalität und Seriosität zu betonen, die es in der Branche unbedingt brauche. „Der Kunde muss rasch Vertrauen fassen. Man braucht Menschenkenntnis, muss professionell und offen kommunizieren. Und natürlich Wort halten.”
Schon vor zehn Jahren hatte Stahl ein Unternehmen in Wien gegründet. Im Vergleich dazu sei es diesmal viel einfacher gewesen, betont er. „Wir haben auch rasch Unterstützung von der Fachgruppe erhalten.”
Raum für eigene Ideen
Konkrete Ziele haben sich auch Julia Pinter und Melanie „Mema” Amann, Gründerinnen der Atelyay kreativagentur, gesetzt. Die beiden haben kurz nach ihrem Kennenlernen entschieden, „gemeinsame Sache zu machen, um all unsere langjährige Erfahrung in der Privatwirtschaft unter einem kreativen Dach zu vereinen”. Sie bieten Grafikdesign, Webdesign, Branding, Eventdesign und Illustrationen. Das Motto „mit Herz und Schmäh” habe sie von Anfang an vereint. „Wir möchten Authentizität und Empathie leben. Und unser Design soll die Kundinnen und Kunden widerspiegeln und sie dabei in der eigenen Authentizität unterstützen”, so Pinter. „Wir wollen uns ständig weitentwickeln, Arbeitsplätze für kreative Köpfe schaffen und dabei kontinuierlich auf langfristige Zusammenarbeit und auf Handschlagqualität setzen”, beschreibt Pinter eine weitere „Herzensangelegenheit” der Agentur. „Weiters möchten wir heimische Betriebe und insbesondere andere selbstständige Frauen fördern, weshalb wir überwiegend in Wien und Österreich produzieren”, fügt Amann hinzu. „Durch unsere vielseitigen Berufserfahrungen abseits der Kreativbranche können wir Projekte mit einem breiten, empathischen Blick betrachten und gestalten sie mit einem tiefen Verständnis für verschiedene Perspektiven”, so Pinter. „Wir entscheiden uns, hinzuschauen und zuzuhören. Für uns stehen die Menschen und deren Ideen im Mittelpunkt”, so Amann.
Gemeinsam Neues wagen
Arik Nähr und Isabella Hofmann haben über berufliche Umwege - beide absolvierten vorher ein Studium - zu ihrer Bestimmung gefunden. „Gekocht und gebacken haben wir schon immer gern”, sagt Arik. In der Corona-Zeit wurde das intensiviert. Gleichzeitig stellten sie fest, dass das Angebot an veganer Patisserie in Wien kaum vorhanden war. Der Gedanke, ein eigenes Geschäft zu eröffnen, wurde „zuerst scherzhaft, dann ernsthaft” erörtert, erzählt Nähr. Vorigen Herbst starteten sie dann im Servitenviertel mit ihrer Patisserie „Chez Fritz”. Ein aufregender und schwieriger, aber durchaus schöner Prozess, wie beide sagen. „Und die richtige Entscheidung”, so Hofmann, die dafür die Konditor-Meisterprüfung nachholte. Das Duo will mit veganer französischer Patisserie ein breites Publikum überzeugen. Der Hauptfokus liegt auf Bestellungen und Take-away, für den Verzehr vor Ort gibt es ein paar Sitzplätze im gemütlichen Geschäftslokal. „Weil es schön ist, mit den Kunden ins Gespräch zu kommen”, so die beiden Neo-Unternehmer.
Gründer brauchen Berechenbarkeit
Die starke Gründungsintensität Wiens spiegelt sich auch in der hohen Nachfrage nach den entsprechenden Services der WK Wien wider. 2024 verzeichnete das Gründerservice mehr als 60.000 Kontakte über Beratungen, E-Mail und Telefon oder bei speziellen Gründungsveranstaltungen - um mehr als 20.000 als im Jahr zuvor. Das zeige, dass das Interesse, sich selbstständig zu machen, weiter steigt, so Ruck. „Wien ist der Place to be, um zu wirtschaften und auch neue Unternehmen auf den Markt zu bringen.”
Allerdings brauchen gerade Jungunternehmer - neben einer generell positiven Stimmung - Berechenbarkeit „wie einen Bissen Brot”, so Ruck. „Unternehmen müssen wissen, wie die Rahmenbedingungen sind, innerhalb derer sie ihre Produkte erzeugen und ihre Dienstleistungen erbringen können. Sie brauchen Freiraum, um ihren Geschäften nachgehen zu können, und kein Einschnüren durch Bürokratie und Dirigismus”, fordert der WK Wien-Präsident. Und die Stadt müsse weltoffen und generell open-minded bleiben, um weiterhin ein ansiedlungs- und gründungsfreundliches Umfeld zu bieten.