Die EU-Wahlen sind geschlagen
Interview mit Marie-Therese Ettmayer und Astrid Satovich
Lesedauer: 7 Minuten
Marie-Therese Ettmayer, Leiterin der EU-Repräsentation der WKÖ in Brüssel, und Astrid Satovich, Referentin für Finanzen, Finanzdienstleistungen und Steuern in der EU-Repräsentation der WKÖ in Brüssel, haben sich in einem gemeinsamen Interview mit dem Thema der kürzlich erfolgten Wahl zum Europäischen
Parlament und deren voraussichtlichen Auswirkungen auseinandergesetzt.
Parlament und deren voraussichtlichen Auswirkungen auseinandergesetzt.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind geschlagen: Können Sie zu diesem frühen Zeitpunkt schon grob voraussagen, welche Themen für das neu zusammengesetzte Europäische Parlament voraussichtlich von besonderer Bedeutung sein werden, welche inhaltlichen Prioritäten gesetzt werden und wo es thematische Abweichungen zur bisherigen Parlamentsarbeit geben könnte? Wie sieht es dabei insbesondere in wirtschaftspolitischer Hinsicht aus? Wohin könnte die Reise gehen?
Insbesondere die EVP sowie konservative und rechte Parteien haben Zugewinne erhalten, wohingegen Liberale und Parteien links der Mitte Verluste hinnehmen mussten. Die großen Parteifamilien EVP und S&D bilden gemeinsam mit der liberalen Renew Europe auch weiterhin eine Mehrheit. Aber es gibt keinen Fraktionszwang im Europäischen Parlament. Die Fraktionen umwerben derzeit die rund 100 fraktionslosen Abgeordneten. Diese können künftig das Abstimmungsverhältnis des Europäischen Parlaments beeinflussen.
Im Zuge der Neuausrichtung der Institutionen – neues Europäisches Parlament, gefolgt von einer neu gewählten Kommission mit Ende 2024 - werden sich die politischen Prioritäten verschieben. Die Stärkung des Wirtschaftsstandortes Europas sowie die Vertiefung des Binnenmarktes stehen im Fokus.
Wir sehen mehr Bewusstsein dafür, dass nur eine starke Wirtschaft die grünen, sozialen und digitalen Reformen tragen kann. Unternehmen müssen mehr gehört werden und Teil der Lösung sein. Dafür braucht es praktische Ansätze und eine Entlastung von überbordenden Anforderungen und Berichtspflichten. Nur so kann die Wettbewerbsfähigkeit Europas nachhaltig gesteigert werden.
Lässt sich in diesem Zeitraum abschätzen, welche grundsätzlichen Schwerpunkte für die Themen der Finanzdienstleistung und für die Versicherungsbranche im Allgemeinen sowie die Versicherungsvermittler:innen im Besonderen gesetzt werden?
In den Monaten vor der Wahl hat sich bereits abgezeichnet, dass die Vertiefung der europäischen Kapitalmarktunion in den nächsten Jahren von zentraler Bedeutung sein wird. Die Attraktivität muss sich dabei aber nicht nur für Anleger:innen steigern, sondern insbesondere auch für KMUs, um neue Finanzierungsquellen für sie zu erschließen.
Künftig sollen Unternehmen nicht nur auf klassische Finanzierungsformen setzen, sondern auch über alternative Wege ihr Geschäftsmodell ausbauen. Die Bestrebungen der letzten Jahre, die europäischen Kapitalmärkte anzukurbeln, haben bislang nur mäßig Früchte getragen.
Ziel ist es, die europäischen Finanzmärkte auszubauen und international wettbewerbsfähig zu gestalten. Bislang haben Start-ups und KMUs leider viel zu häufig auf anderen Märkten nach Finanzierungsmöglichkeiten gesucht, zum Beispiel in den USA, weil in Europa keine passenden Lösungen vorhanden waren. Das soll sich künftig ändern. Ein entscheidender Faktor wird dabei auch sein, Unternehmer:innen vorhandene Lösungen aufzuzeigen und verständlich zu machen. Nur dann können sie auch von neuen Finanzierungsformen Gebrauch machen.
Zudem werden konkrete Vorschläge zum weiteren Ausbau grenzüberschreitender Finanzdienstleistungen erwartet. In welcher Form dies kommen könnte, wird aber auch von den Schwerpunkten der neuen Kommission abhängen. Bereits etablierten Vorhaben, wie dem paneuropäischen privaten Pensionsprodukt (PEPP), soll neuer Glanz verliehen werden.
Das soll langfristig den Wirtschaftsstandort Europa attraktiver für europäische und internationale Unternehmen machen.
Für Versicherungsmakler:innen von besonderer Bedeutung sind die von der Europäischen Kommission initiierte Retail Investment Strategy (RIS) und die damit einhergehende IDD-Novellierung. Dazu wurde Ende März bereits im ECON der Bericht angenommen und die Berichterstatterin Stephanie Yon-Courtin für Trilog-Verhandlungen mit Rat und Kommission legitimiert. Glauben Sie, dass sich durch die neue Zusammensetzung des Parlaments noch inhaltliche Änderungen ergeben werden? Wird sich das Parlament also an die bisherigen Beschlüsse gebunden fühlen, oder könnte es sein, dass das RIS-Paket sozusagen wieder aufgeschnürt wird?
In der Regel werden Positionierungen vom neu gewählten Plenum des Europäischen Parlaments ohne Änderungen übernommen. Ein Aufschnüren des Pakets ist unwahrscheinlich. Für den zeitlichen Verlauf der Verhandlungen ist positiv, dass Stéphanie Yon-Courtin auch weiterhin im Europäischen Parlament tätig sein wird.
Ihre Wiederbestellung als Berichterstatterin gilt als wahrscheinlich. Der europäische Gesetzgebungsprozess sieht dennoch zahlreiche Stufen vor, die bis zu einer finalen Einigung zwischen Rat und Europäischem Parlament üblicherweise einige Monate in Anspruch nehmen.
Der Rat der Europäischen Union (bestehend aus den zuständigen Minister:innen der Mitgliedstaaten) hat sich vor der EU-Wahl noch auf keine gemeinsame Position bezüglich des RIS-Vorschlags einigen können. Im Gegensatz zum Europäischen Parlament gibt es in diesem gesetzgebenden Organ der EU grundsätzlich keine (durch die EU-Wahl bedingten) Änderungen, da er durch die Mitgliedstaaten direkt besetzt wird. Wie glauben Sie, werden sich die Trilog-Verhandlungen nun in weiterer Folge gestalten? Und von welchem Zeitplan darf man dabei ausgehen?
Das Parlament muss sich in den Wochen nach der Wahl erst einmal organisieren, die legistische Arbeit beginnt wieder im Herbst 2024. Die Positionierung des Parlaments kam nur wenige Wochen vor der Europawahl. Auch der Rat erzielte mittlerweile eine Ausrichtung.
Die Trilog-Verhandlungen könnten also bereits im Herbst beginnen. Die Kleinanleger:innenstrategie beinhaltet aber bekannterweise einige heikle Eckpunkte für Wirtschaftstreibende und gilt im Zuge der Ambitionen zur Stärkung der Kapitalmarktunion zudem als politisch brisant.
Wir erwarten daher, dass die Verhandlungen einige Monate beanspruchen werden; wie zuletzt bei den Gesprächen zum Anti-Geldwäsche-Paket, die beinahe ein Jahr andauerten. Die finalen Texte für die Kleinanleger:innenstrategie werden somit frühestens für Frühjahr 2025 erwartet.
Welche weiteren wirtschaftspolitischen Initiativen – speziell bezogen auf die Versicherungswirtschaft -, die sich allenfalls bereits in der Pipeline befinden, werden das neue Europäische Parlament in der nächsten Zeit besonders beschäftigen?
Mit der Überarbeitung der Solvabilität-II-Richtlinie und der Schaffung der Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Versicherungsunternehmen (IRRD) wurden in den letzten Monaten bereits grundlegende Neuerungen für einen robusten Versicherungssektor beschlossen. Die neuen Vorschriften werden voraussichtlich Anfang 2025 final veröffentlicht und finden danach graduell Anwendung. 2025 und 2026 müssen aber viele wichtige Aspekte des Maßnahmenpakets noch im Zuge von delegierten Rechtsakten ausgearbeitet werden.
Diese Details machen in der Anwendung oft den Unterschied, weshalb deren Ausgestaltung die Branche auch in der nächsten Legislaturperiode beschäftigen wird. Zudem könnten neue und größer werdende Stressfaktoren für die Versicherungswirtschaft in den Mittelpunkt rücken. Die Regulatoren sind bereits jetzt mit den zunehmenden Risiken aus den Bereichen Cyber, Umwelt und Governance beschäftigt, dies wird tendenziell auch in Zukunft einen Schwerpunkt ihrer Arbeit ausmachen und den Versicherungssektor einschneidend beeinflussen.
Danke für das Gespräch.
Marie-Therese Ettmayer
Sternzeichen: Löwe
Alter: 44 Jahre
Bundesland: Wien
Beruf: Leiterin der EU-Repräsentation der WKÖ in Brüssel
Hobbies: Reisen, Lesen, Tauchen
Lieblingsreiseziel: Asien
Lieblingsessen: alles, was schmeckt
Lieblingsmusik: hängt von der Stimmung ab
Lieblingsbuch: Aktuell der Sammelband "Was Europa besser macht" der Julius Raab Stiftung, weil er viele wichtige Anregungen für ein starkes und zukunftsfähiges Europa enthält.
Wie würden Sie sich selbst mit drei Worten beschreiben?
Teamorientiert, enthusiastisch und authentisch.
Wie sind Sie Leiterin der EU-Repräsentation der WKÖ in Brüssel geworden?
Das Arbeiten auf EU-Ebene hat sich schon früh für mich abgezeichnet. Europäisches Recht war Schwerpunkt meines Studiums der Rechtswissenschaften. Nach Brüssel hat es mich schon vor mehr als 15 Jahren gezogen. Hier habe ich umfangreiche Erfahrungen in der EU-Politikgestaltung und -umsetzung in verschiedenen EU-Institutionen gesammelt, zuletzt im Kabinett von Christa Schweng, der ehemaligen Präsidentin des Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschusses. Davor neun Jahre in der Europäischen Kommission. Jetzt vertrete ich mit Leidenschaft die Interessen der österreichischen Wirtschaft in Europa.
Was war das schönste Erlebnis in Ihrem Beruf?
Jedes Mal, wenn ich Kolleg:innen helfen konnte, ihr Potenzial auszuschöpfen. Das freut mich am meisten. Wann strahlt Ihr Herz? Wenn Teamspirit gelebt wird.
Wie/Wo tanken Sie Kraft?
Mit Freund:innen oder Familie Zeit zu verbringen.
Hatten Sie ein weibliches Vorbild bzw. im Idealfall eine Mentorin?
Ich habe auf meinen verschiedenen Stationen immer wieder starke und bewundernswerte weibliche Vorgesetzte und Kolleginnen kennengelernt. Einzigartige Persönlichkeiten, die mit ihrem Elan und ihrer unkonventionellen Art
Frauenpower und Farbe in die sonst graue Männerdomänen gebracht haben. Genauso möchte auch ich aufstrebende Frauen inspirieren und ihnen mit Rat zur Seite stehen.
Astrid Satovich
Sternzeichen: Skorpion
Alter: 30 Jahre
Bundesland: Burgenland
Beruf: Referentin für Finanzen,
Finanzdienstleistungen und Steuern in der EU Representation der WKÖ in Brüssel
Hobbies: Radfahren, Gesellschaftsspiele, True Crime Podcasts
Lieblingsreiseziel: Lappland, Island, Amalfiküste
Lieblingsessen: Tafelspitz
Lieblingsmusik: Buena Vista Social Club passt immer
Lieblingsbuch: Lean In von Sheryl Sandberg
Lieblingsfilm/-serie: Als Kind der 90er… Harry Potter!
Wie würden Sie sich selbst mit drei Worten beschreiben?
Hilfsbereit, ambitioniert und
herzlich.
Wie sind Sie Referentin für
Finanzen, Finanzdienstleistungen und Steuern in der EU Representation der WKÖ in Brüssel geworden?
Als Juristin für Bank- und Versicherungsrecht war die Finanzbranche naheliegend. Nach mehreren Stationen bei Banken, im Ministerium und in der Finanzmarktaufsicht hat sich das EU-Finanzmarktrecht immer mehr als Leidenschaft herauskristallisiert. Brüssel als Arbeitsplatz hat mich seit einem Praktikum 2016 überzeugt und war nach Beendigung des Studiums ein logischer Schritt.
Was war das schönste Erlebnis in Ihrem Beruf?
Zu erleben, dass echte Begeisterung ansteckend sein kann. Komplexe Themen einfach darzustellen und somit "Zugangsbarrieren" zu beseitigen, kann besonders in der EU-Finanzwelt einen Unterschied machen.
Haben Sie sich in der Branche
schon mal behaupten/verteidigen müssen?
Der Finanzsektor ist nach wie vor stark männerdominiert, als junge Frau ist man einmal mehr herausgefordert, sich zu behaupten. Daher sollte man einmal mehr mutig sein!
Wann strahlt Ihr Herz?
Inmitten eines geselligen Abends mit Familie und Freund:innen, egal ob im Burgenland oder in Brüssel.
Wie/Wo tanken Sie Kraft?
Beim Rennradfahren in Flandern und beim Spaziergang an der belgischen Nordseeküste.
Hatten Sie ein weibliches Vorbild bzw. im Idealfall eine Mentorin?
Ja, sich aktiv um eine Mentorin zu bemühen, ist wichtig! Ich war von der Hilfsbereitschaft positiv überrascht und es ist überaus wertvoll, auf einen
Erfahrungsschatz und Rat vertrauen zu können.
Das Interview mit Marie-Therese Ettmayer und Astrid Satovich ist erschienen in der Ausgabe "Versicherungsmakler" 03/2024.