Sabine Herlitschka, Renate Anderl, Martha Schultz, Korinna Schumann, Irene Neumann-Hartberger
© WKÖ/Ludwig Schedl

Kinderbetreuung: Ein Gipfel für den großen Lückenschluss

Vertreterinnen von WKÖ, AK, Industriellenvereinigung, ÖGB und Landwirtschaftskammer machten auf die multipel positiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Effekte einer ganzjährigen Kinderbetreuung aufmerksam.

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Aktualisiert am 30.05.2023

Diese Einigkeit ist kraftvoll. Und ein Kraftakt ist auch nötig. „Wir sind die ersten Stufen einer steilen Treppe gegangen. Ich hoffe, dass die Treppe eine Rolltreppe ist und schnell ins Rollen kommt“, sagt Martha Schultz. Der qualitätsvolle Ausbau der Kinderbetreuung ist es, der am Ende der steilen Treppe steht und die Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer Österreich und Bundesvorsitzende von Frau in der Wirtschaft ist mit ihrer Forderung nach einem diesbezüglichen Turbo nicht allein. Im Rahmen des Kinderbetreuungsgipfels, der am 10. Jänner 2023 in Anwesenheit von „Hausherr“ Präsident Alexander van der Bellen in der Wiener Hofburg stattfand, wurde der Turbo von einer starken Seilschaft gezündet. Neben Martha Schultz nahmen Sabine Herlitschka (Vizepräsidentin Industriellenvereinigung), Renate Anderl (Präsidentin Arbeiterkammer), Korinna Schumann (Vizepräsidentin und Frauenvorsitzende ÖGB) und Irene Neumann-Hartberger (Vizepräsidentin Landwirtschaftskammer Österreich und Bundesbäuerin) an dem Gipfel teil.

Der Schulterschluss von Sozialpartnerschaft und Industriellenvereinigung wirkt für den Bruchteil einer Sekunde ungewöhnlich. Dieser Moment verfliegt aber rasch, ist das Thema, das sie zusammenschweißt, doch ein Schlüsselfaktor für zahlreiche gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunftsfragen. „Die Problematik ist allen bekannt, die enorme Belastung für berufstätige Mütter und Familien alltägliche Realität. Es ist schon einiges passiert, aber wir sind noch lange nicht dort, wo wir hinwollen, deshalb ist es notwendig, dass wir dran bleiben und weitere Maßnahmen einfordern“, sind sich die Frontfrauen einig.

Starke Argumente für genügend Mittel

Der Zeitpunkt des Gipfels war perfekt gewählt, beginnen doch gerade die Verhandlungen zum Finanzausgleich, der die Aufteilung der Finanzmittel des Staates auf die einzelnen österreichischen Gebietskörperschaften regelt. Der Ausbau der Kinderbetreuung wird auch in diesem Rahmen diskutiert werden und die Gipfelstürmerinnen liefern starke Argumente dafür, genügend Mittel für den Ausbau der Kinderbetreuung und Elementarbildung bereit zu stellen.

„Gerade auch vor dem Hintergrund des akuten Arbeits- und Fachkräftekräftemangels ist ein Turbo beim Ausbau der qualitätsvollen Kinderbetreuung vom Neusiedlersee bis zum Bodensee mit einer Ausweitung der Öffnungszeiten, die mit einer Vollzeitbeschäftigung vereinbar sind, ein Muss – wichtig für Frauen, Familien und den gesamten Wirtschaftsstandort Österreich“, so WKÖ-Vizepräsidentin Schultz.

Als Unternehmerin kennt sie die negativen Effekte unzulänglicher Betreuungsangebote auf das wirtschaftliche Leben. Nach wie vor liegt es meis-
tens an den Frauen, den Drahtseilakt zwischen Familie und Beruf zu schaffen. Ihre vielfach hochqualifizierte Arbeitskraft fehlt dem Arbeitsmarkt, wenn sie ihre Kinder nicht bestens betreut wissen. „Natürlich bin ich für Freiwilligkeit. Jeder soll tun, was er als das Beste empfindet – für das Kind und für sich. Nur glückliche Eltern sind gute Eltern“, sagt Martha Schultz und betont: „Sie sollen aber auch die Elementarpädagogik vorfinden, die es braucht, damit sie mit ruhigem Gewissen ihrer Arbeit nachgehen können.“

Gerade auch vor dem Hintergrund des akuten Arbeits- und Fachkräftemangels ist ein Turbo beim Ausbau der qualitätsvollen Kinderbetreuung ein Muss.

Befeuerte Forderungen

Dass Österreich diesbezüglich im Europavergleich hinterher hinkt, ist bekannt. Mitte August 2021 hatte die Julius Raab Stiftung beispielsweise eine Studie veröffentlicht, die für Österreich kein Ruhmesblatt im Sinne der Chancengerechtigkeit für Kinder oder im weiteren Sinn für Familien aufzeigen konnte. Gemeinsam mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut EcoAustria war der frühkindlichen Betreuung und Bildung, der Beschäftigungsquote von Frauen sowie dem Frauenbild in der Gesellschaft auf den Zahn gefühlt worden – und das nicht nur in Österreich, sondern in den Reihen der EU-27 sowie der Schweiz und Norwegen.

Der Vergleich ergab ein ziemlich tristes Bild Österreichs, wenn es um die Weichenstellungen für Kinder geht und ihre Sprungbretter in ein erfolgreiches Leben. Ein Gap beziehungsweise eine Vergleichszahl aus der Studie machte auf eindrückliche Weise deutlich, „wie weit es fehlt“. Waren im Betrachtungszeitraum in Dänemark bereits 66 Prozent der unter 3-Jährigen in entsprechenden Einrichtungen betreut worden und kamen so in den Genuss einer frühkindlichen Bildung, so lag diese Betreuungsquote in Österreich bei lediglich 23 Prozent.

Aufholbedarf

Der Aufholbedarf hatte auch bestens Informierte überrascht und die sich zuspitzenden Krisensituationen befeuern die Forderungen nach einem Lückenschluss. „Es geht um den Wirtschaftsstandort, für den diese Soft-Faktoren essenziell sind. Es geht um die Zukunftschancen für Kinder, die mit früher Elementarpädagogik besser sind. Es geht auch um die Gleichberechtigung, den Gender-Pay-Gap und es geht um die Altersarmut der Frauen. Das steckt alles da drin“, unterstreicht Martha Schultz die gesellschaftspolitische Strahlkraft einer dem Lebens- und Arbeitsalltag angepassten Kinderbetreuung, mit der auch die Tristesse ländlicher Regionen aufgehellt werden kann. „Ländliche Regionen brauchen den konsequenten Ausbau einer bedarfsgerechten, qualitätsvollen Kinderbetreuung.

Öffnungszeiten müssen an die Arbeitswelt angepasst sein. Arbeitsplatzangebot, digitaler Ausbau und eine entsprechende Infrastruktur entscheiden über die Rückkehr gut ausgebildeter Eltern in ihre Heimatgemeinden. Rahmenbedingungen für ein ausgewogenes Familien- und Berufsleben sind von größter Bedeutung für die Vitalität des ländlichen Raumes“, weiß LKÖ Vizepräsidentin Irene Neumann-Hartberger und AK-Präsidentin Renate Anderl betont: „Eine qualitativ hohe Elementarbildung hat unschätzbar hohen Wert. Deshalb braucht es jetzt eine Milliarde Euro mehr pro Jahr, um diesen Schatz auch heben zu können.“ Darum geht’s. Um einen Schatz, der gehoben
werden will.

Martina Entner, Vizepräsidentin der WK Tirol und Landesvorsitzende von Frau in der Wirtschaft, betont im TW-Interview den positiven Domino-Effekt, der im quantitativen Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen steckt.

Beim jüngsten Kinderbetreuungsgipfel wurde auch deutlich, wie entscheidend ein flächendeckendes Betreuungsangebot für den Wirtschaftsstandort ist. Wie ist der Status quo in Tirol?

In den letzten Jahren ist viel passiert. Die Kinderbetreuungs-Einrichtungen sind qualitativ sehr gut, aber quantitativ – im Sinne von flächendeckend, ganzjährig und ganztägig – hinken wir noch hinten nach. Ich glaube, dass das an den alten Strukturen liegt und das Umdenken erst Fuß fasst. Das Angebot ist noch nicht so da, wie es sein müsste und darum setzen wir uns dafür ein, dass es dringend ausgebaut werden muss. Wenn das Angebot da ist, dann wird es auch genutzt, das zeigen uns die skandinavischen Länder schon lange. In vielen Tiroler Dörfern oder Regionen fehlen beispielsweise noch Angebote, die die Randzeiten abdecken – am Nachmittag, in den Ferienzeiten, in der Früh. In den urbanen Räumen geht’s schon besser, aber in den Seitentälern sind wir da noch hintennach.

Muss das Angebot schlicht lebensnäher sein?

So ist es. Wenn die Eltern das Kind um zwölf Uhr abholen müssten, fehlt oft genau diese halbe Stunde, in der sie noch arbeiten sollten. Und wenn sie ihre Kinder erst um acht Uhr in die Betreuungseinrichtung bringen können, gehen sich nicht einmal vier Stunden Arbeit aus. Die Ganztägigkeit und Ganzjährigkeit ist ein wichtiges Thema. Neben dem finanziellen Thema für Gemeinden, Land und Bund, geht es auch um die Fachkräfte. Auch da schließt sich der Kreis. Man braucht mehr Arbeitskräfte auch im elementarpädagogischen Bereich – da muss man schauen, dass im Bereich der Ausbildung Anreize geschaffen werden und wir mehr Mitarbeiter:innen bekommen.

Wie kann das gelingen?

Für die gesamte Beschäftigungssituation gilt, wenn es dieses Angebot an Kinderbetreuung gibt und es gut und verlässlich ist, kommen auch wieder viel mehr in den Arbeitsmarkt zurück. Der Wiedereinstieg ist für Frauen dann einfacher. In manchen Gemeinden, manchen Regionen gibt es das einfach nicht. Wenn das Angebot geschaffen ist, bedeutet das einen Mehrwert in vielfacher Hinsicht. Generell gilt für alle Branchen – auch für die Elementarpädagogik – dass Anreize geschaffen werden müssen. Da muss man an vielen Schrauben drehen, nicht nur bei der Schaffung der Infrastruktur, sondern auch ganz viel bei der Software.

Die Tiroler Landesregierung ist die erste, die den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung in ihr Programm geschrieben hat. Stimmt Sie das hoffnungsfroh?

Ja, schon. Beim Rechtsanspruch gibt es zwar Bedenken, dass es Klagen geben könnte. Ich glaube aber, das ist ein Bekenntnis und das ist der richtige Schritt in die Zukunft. Es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Wille da ist. Es braucht mutige Entscheidungen, weil sich zwar viel getan hat, aber noch viel mehr getan werden muss.