Europäisches Parlament
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EU-Wahl 2024: Fokus auf KMU-Entlastung

Vor der Wahl, für die Wahl und nach der EU-Wahl im Juni 2024 stehen die Forderungen der europäischen KMU wie Mahnmale im Raum des Binnenmarktes. „Bürokratieabbau und die Vereinfachung der Rahmenbedingungen für Unternehmen müssen eine Priorität der neuen EU-Legislaturperiode sein“, betont WKÖ-Vizepräsidentin und Vizepräsidentin von Eurochambres Martha Schultz.

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Aktualisiert am 09.04.2024

Vor 100 Jahren ist Franz Kafka gestorben. Wer den Schriftsteller in diesem Feierjahr damit ehren will, seine Werke (wieder) zu lesen, könnte etwa den Roman „Der Prozess“ zücken. Mit der Geschichte des Romanhelden, der gegen eine mysteriöse Behörde kämpft, wird schnell klar, dass die Bürokratie schon zu Kafkas Zeiten so undurchschaubar und irrwitzig gewesen sein muss, dass sie Stoff für einen Roman lieferte. Zu wissen, dass die Bürokratie im österreichischen Vielvölkerstaat genauso als Geisel empfunden wurde, wie Jahrhunderte zuvor schon im römischen Reich, nützt all jenen, die heute unter den schwer durchschaubaren Großlasten der Bürokratie leiden und dem Verwaltungsaufwand mehr Zeit widmen als den Gedanken an Morgen, genau gar nichts. Administrativer Wildwuchs scheint aber ein Merkmal großer Staatengebilde oder Staatenverbünde zu sein – und die Europäische Union ist da keine Ausnahme.

Anfang 2024 veröffentlichte die europäische Kammerorganisation Eurochambres ihre Binnenmarktumfrage 2024 und damit die dritte dieser Art. Rund 1.000 Unternehmerinnen und Unternehmer waren dafür im Herbst zuvor zu ihren Erfahrungen mit beziehungsweise im Binnenmarkt befragt worden. Sie hielten fest, dass die größten Hürden für die Betriebe im nach wie vor unvollendeten europäischen Binnenmarkt überbordende Bürokratie und die damit verbundenen Kosten, unterschiedliche Vorschriften und Informationsdefizite sind.
Eurochambres vertritt auf EU-Ebene mit rund 1.700 regionalen und lokalen Kammern in 43 Ländern die Interessen von rund 20 Millionen Unternehmen. Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen (KMU) machen 99 Prozent aller Unternehmen in der EU aus. Sie repräsentieren damit „die Wirtschaft“ in der EU und die Ergebnisse der jüngsten Eurochambres-Studie sind aktuell von noch größerer Relevanz, weil sie kurz vor der Wahl des neuen EU-Parlaments im Juni 2024 den Druck auch auf die EU-Kommission erhöhen.

Bürokratieabbau und die Vereinfachung der Rahmenbedingungen für Unternehmen müssen eine Priorität der neuen Legislaturperiode sein und von der EU-Kommission, dem EU-Parlament und den Mitgliedsstaaten entschieden umgesetzt werden."


Priorität Vereinfachung

„Vor genau einem Jahr hat Kommissionspräsidentin von der Leyen angekündigt, die Berichtspflichten auf EU-Ebene um 25 Prozent zu reduzieren. Bisher ist der umfangreiche Bürokratieabbau für Europas Unternehmen trotz einiger kleiner Schritte nicht umgesetzt worden. Das ist angesichts der aktuell schwierigen wirtschaftlichen Lage zu wenig“, stellt Martha Schultz, Vizepräsidentin der WKÖ und Vizepräsidentin von Eurochambres, klar. Mitte November 2023 erst ist die Tirolerin für weitere zwei Jahre als Vizepräsidentin der Europäischen Wirtschaftskammern bestätigt worden und jüngst hat Eurochambres auf Betreiben der WKÖ hin einen offenen Brief an Kommissionspräsidentin von der Leyen veröffentlicht, in dem der Dachverband der Wirtschaftskammern fordert, dass das 25-Prozent-Ziel nicht verwässert werden darf.

„Für Unternehmerinnen und Unternehmer in ganz Europa sind administrative Kosten nach wie vor eine der größten Hürden, wenn sie in anderen EU-Staaten tätig werden wollen. Die Ressourcen, die zur Bewältigung immer größeren Verwaltungsaufwandes verschwendet werden, fehlen für Wachstum und Innovationskraft“, erklärt Martha Schultz und hält mit Blick auf die EU-Wahl fest: „Bürokratieabbau und die Vereinfachung der Rahmenbedingungen für Unternehmen müssen eine Priorität der neuen EU-Legislaturperiode sein und von der EU-Kommission, dem EU-Parlament und den Mitgliedstaaten entschieden umgesetzt werden.“

Damit bündelt Schultz gewissermaßen jene Forderungen, die im Rahmen des European Parliament of Enteprises (EPE 2023), der größten unternehmerischen Veranstaltung auf EU-Ebene, als gemeinsame Nenner genannt wurden. „Europas Wirtschaft steht am Scheideweg, die Zukunft unserer Wettbewerbsfähigkeit wird von drei großen Herausforderungen bedroht. Erstens, der Arbeitskräftemangel, es werden EU-weit Millionen an Jobs in den nächsten Jahren frei und die Unternehmen wissen jetzt schon nicht, wie sie geeignete Fachkräfte finden können. Zweitens, steigende Energiepreise und drittens ein durch geopolitische Spannungen beeinträchtigter internationaler Handel. Dieser wird noch dazu durch europäische Bürokratie ausgebremst, die eher mehr wird, anstatt, wie versprochen, weniger“, hatte Schultz im Rahmen des EPE 2023 festgehalten.

Beim Wort nehmen

So schwer es auch sein mag, immer mühsam errungene EU-Gesetze gleichermaßen mühsam zu streichen oder die „One-in-one-out-Regel“ umzusetzen – das heißt, für jede neue Regel soll eine alte wegfallen – „mehr als weniger“ entspricht keinesfalls den Bedarfen der Unternehmer:innen Europas. Auf die Ankündigung der Kommissionspräsidentin, 25 % der Berichtspflichten für Unternehmen zu streichen, um den Standort Europa wettbewerbsfähiger zu machen, folgte im September 2023 die Ankündigung, die Steuerregeln für KMU vereinfachen und Zahlungsverzögerungen bekämpfen zu wollen.

„Heute stellen wir ein umfassendes Paket von Maßnahmen zur Unterstützung von KMU vor. Wir vereinfachen die Steuervorschriften, verringern den Verwaltungsaufwand und fördern die Qualifikation. Unsere ehrgeizige Überarbeitung der Regeln für den Zahlungsverzug wird ein faires Geschäftsumfeld für KMU im gesamten Binnenmarkt schaffen. Dies wird kleine Unternehmen widerstandsfähiger machen und ihnen helfen, schwierige Zeiten zu überstehen“, wurde EU-Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton dazu im September 2023 mit Worten zitiert, welche von den Vertreter:innen der KMU vor der EU-Wahl durchaus als Wahlkampfslogans dienen könnten.

Der Europäische Binnenmarkt, für den Thierry Breton zuständig ist, hat 2023 erst seinen 30. Geburtstag gefeiert. Die Wirtschaftskammer nahm das Jubiläum zum Anlass, die Bedeutung des stets als unvollendet bezeichneten Binnenmarktes auf die österreichische Wirtschaft aufzuschlüsseln. Heraus kam, dass rund 70 Prozent des gesamten österreichischen Außenhandels (Exporte und Importe) mit den anderen 26 EU-Ländern, also dem Binnenmarkt, erzielt werden. 1995 waren es im Export 33 von 42 Milliarden Euro, 2021 waren es 112 von 166 Milliarden Euro. Österreichs weltweite Exportquote (Waren und Dienstleistungen, gemessen am BiP) stieg seit der EU-Mitgliedschaft von 33,6 auf 55,9 Prozent und liegt damit über dem EU-Durchschnitt.

Die Warenexportquote allein stieg von 23,4 auf 41,5 Prozent. „Je Milliarde Exportvolumen werden rund 10.000 Arbeitsplätze gesichert, damit ist fast jeder zweite Job in Österreich direkt oder indirekt vom Export abhängig“, hielten die WKO-Experten in ihrer Darstellung „30 Jahre EU-Binnenmarkt – Unvollendeter Meilenstein der Integration“ fest. Die positiven Effekte des Binnenmarktes auf die österreichische Wirtschaft sind unbestritten, doch könnte es viel besser gehen, für die KMU einfacher – und damit erfolgreicher.

Ausgleich zwischen Regulierung und Dynamik

Als scheidende EU-Parlamentarierin kennt WK-Präsidentin Barbara Thaler die Mechanismen und Abläufe in der Europäischen Union genau. Im Kurzinterview gibt sie einige Einblicke.

Barbara Thaler: Die Komplexität der EU-Bürokratie resultiert aus dem Bestreben, 27 Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Interessen und Rahmenbedingungen zu einem Konsens zu führen. Es sind sehr viele Player involviert, die aus ihrer Sicht das Richtige und das Beste wollen. Unsere Unternehmen kommen bei der Umsetzung aber zusehends an ihre Grenzen, das beste Beispiel dafür ist der grundsätzlich absolut zu befürwortende Green Deal. Was wir brauchen, ist ein Ausgleich zwischen notwendiger Regulierung und dem Erhalt unternehmerischer Dynamik.

Viel, mehr Ernsthaftigkeit und keine Versuche mehr, das Ziel zu verwässern. Es geht kurz gesagt um die Verhältnismäßigkeit. Es gibt zahlreiche Beispiele, es sei hier nur die Nachhaltigkeitsberichterstattung erwähnt, die mehr und mehr bürokratischen Aufwand verursachen und für 99 Prozent der europäischen Betriebe eben nicht verhältnismäßig sind. In der nächsten EU-Legislaturperiode muss dieses Ziel wieder in den Fokus rücken.

In den 30 Jahren ist der Binnenmarkt für uns selbstverständlich geworden und es fehlt uns womöglich die Wahrnehmung für die Dimension, mit der sich der Binnenmarkt zu unserem Vorteil verändert hat. Das Exportvolumen Tirols hat sich  seit 1994, dem letzten Jahr vor dem EU-Beitritt, von etwa 3 Milliarden Euro auf über 16 Milliarden Euro fast verfünffacht. Mehr als 60 % dieser Exporte fließen in die EU-27. Der Wegfall von Wartezeiten an den Grenzen und von Zollformalitäten spart nicht nur Zeit und Kosten, sondern erleichtert es auch kleineren Unternehmen ohne spezifisches Zollwissen, in den Außenhandel einzusteigen. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, Arbeitsplätze in Tirol zu schaffen bzw. zu erhalten und somit den Wohlstand in der Region zu fördern. Wobei eines auch außer Streit steht: Der Binnenmarkt hat noch sehr viel mehr Potenzial: Nur ein Beispiel, der Dienstleistungsbinnenmarkt. Hier sind die größten Potenziale erzielbar. Für Tiroler Unternehmen in Grenzregionen (v.a. Kufstein, Außerfern, Lienz, Landeck) ist es enorm wichtig, nicht nur in Österreich Aufträge abwickeln zu können, sondern in ihrer gesamten Region.

Als scheidende Parlamentarierin war der wertvollste Einblick für mich, die Abläufe und Mechanismen der Europäischen Union kennenzulernen, was eine faszinierende Erfahrung war. Besonders bereichernd empfand ich das Aufbauen eines einzigartigen Netzwerks in ganz Europa und die „coole“ internationale Arbeit, die über nationale Grenzen hinausgeht und neue Perspektiven eröffnet. Diese Kombination aus tiefem Verständnis für die EU, grenzüberschreitender Zusammenarbeit und dem Beitrag zu übergeordneten Zielen hat meine Amtszeit geprägt und unvergesslich gemacht.