EU-Binnenmarkt: Renaissance bewährter Stärken gefragt
Im Juni 2024 stehen mit der Wahl des neuen EU-Parlaments auch zahlreiche Entscheidungen auf dem Programm, mit denen die künftigen Handlungs-Rahmen der Tiroler KMU bestimmt werden. Für WK Tirol-Präsidentin Barbara Thaler ist klar: „Eine wirtschaftsfreundlichere Ausgestaltung des Binnenmarkts birgt große Potenziale und ermöglicht enormen Antrieb für Wohlstand und Arbeitsplätze.“
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Wer nichts mit der EU zu tun hat, ist tot.“ Der Satz des Politologen Peter Filzmaier trifft in vielerlei Hinsicht punktgenau ins Schwarze. Von der Wiege bis zur Bahre, von Nord nach Süd, von früh bis spät sind alle EU-Bürger:innen mit europäischen Regelungen konfrontiert. 90 bis 95 % der europäischen Rechtssetzungen und Entscheidungen kommen ohne die Zustimmung des EU-Parlamentes nicht zustande. Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht von der EU mitbeeinflusst ist. Auch und vor allem die Regeln, nach denen im EU-Raum „gewirtschaftet“ werden kann, sind entscheidend für das ökonomische Wohlergehen der Mitgliedsländer und Regionen. Auch und vor allem für die Tiroler Unternehmer:innen ist vor dem Hintergrund entscheidend, was im EU-Parlament beschlossen wird und in welche Richtungen die EU-Kommission marschiert. Wie die EU in der kommenden Legislaturperiode ticken wird – also in den nächsten fünf Jahren – wird von 6. bis 9. Juni 2024 entschieden. Im Windschatten so zahlreicher Krisen und geopolitischer Unsicherheiten ist die Europawahl 2024 weit mehr als ein Gradmesser für Befindlichkeiten, sind die Herausforderungen doch viel zu groß.
Nachdem sich das neue EU-Parlament formiert hat, stehen jedenfalls Weichenstellungen für die Zukunft des Europäischen Binnenmarktes auf dem Programm. 2023 feierte dieser europäische Wirtschaftsraum seinen 30. Geburtstag. „Für die heimische Wirtschaft ist der europäische Binnenmarkt der wichtigste Exportmarkt: Mehr als 60 % der Tiroler Exporte gehen in die anderen EU-Mitgliedsstaaten. Für eine kleine und offene Volkswirtschaft wie Österreich ist die enge wirtschaftliche Verflechtung mit der EU essenziell. Wir sind bei den Pro-Kopf-Exporten weltweit an 8. Stelle“, hält Barbara Thaler, Präsidentin der Tiroler Wirtschaftskammer, fest. Die Bedeutung des Binnenmarktes für den Wirtschaftsstandort Tirol ist enorm und doch stottert die Dynamik.
Entsprechende Freiheiten
Im Binnenmarkt sollten optimalerweise weitgehend homogene Marktbedingungen „herrschen“, die durch den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmern sowie eine angeglichene Rechtsordnung gekennzeichnet sind und damit Wachstum, Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen. Der Konjunktiv zeigt schon, dass der Binnenmarkt sein Ziel noch nicht erreicht hat.
Mitte April 2024 erst hat der italienische Ex-Regierungschef Enrico Letta einen vom Europäischen Rat in Auftrag gegebenen Bericht zur Lage des Europäischen Binnenmarktes veröffentlicht, mit dem er den ersten drei Jahrzehnten ein durchwachsenes Zeugnis ausstellt. Letta kommt zum Schluss, dass die übermäßige Regulierungslast und der bürokratische Aufwand dem Unternehmen in Europa heute ausgesetzt sind, die Dynamik und Effizienz des Binnenmarktes behindern und ungewollt außereuropäische Unternehmen begünstigen, die nicht an die gleichen strengen Regeln gebunden sind. Außerdem hält er fest, dass auf allen Ebenen in Europa und in den Mitgliedstaaten nach der Wirtschafts- und Finanzkrise zu beobachtende Tendenz zu einem risikoaversen Regulierungsansatz zu einem Übermaß an sich überschneidenden Vorschriften geführt hat, die Rechtsunsicherheit schaffen und erhebliche Befolgungskosten verursachen.
Laut Letta muss der europäische Binnenmarkt, der langsam aus verschiedenen Krisen herauswächst, gleichzeitig die Hürden der grünen und digitalen Transformation bewältigen muss und dessen Anteil an der Weltwirtschaft merklich geschrumpft ist, neu erfunden werden.
Selbst wenn sie sich den Kritikpunkten Lettas in weiten Teilen anschließt, schießt der ehemalige Vorsitzende des Partito Democratico für Präsidentin Thaler am Ziel vorbei. Thaler ist noch bis zur Wahl Mitglied des Europäischen Parlaments und hält im Zusammenhang mit Lettas Fazit fest: „Ich denke nicht, dass unser Binnenmarkt gänzlich neu erfunden werden muss. Vielmehr braucht es eine Renaissance jener Werte, die den Wirtschaftsstandort Europa in den vergangenen Jahrzehnten so erfolgreich und verlässlich gemacht haben. ‚Fähigkeiten, Talente, Forschung, Innovation, Integrität der Behörden, sichere Umgebungen und faire Steuersysteme – das sind diese Elemente, die die Marke ‚made in Europe‘ prägen. Unser Fokus sollte darauf liegen, diese Elemente zu stärken, anstatt auf die fortwährende Subventionierung durch die Steuerzahler:innen zu setzen‘, so hat es EU-Kommissarin Margrethe Vestager einmal überaus treffend formuliert.“ Konkret fasst Thaler ihre Forderungen wie folgt zusammen: „Wir brauchen einen Binnenmarkt dort, wo es noch keinen gibt, wir müssen die eigenen Regeln einhalten und auch durchsetzen und der Wirtschaft müssen entsprechende Freiheiten gelassen werden.“
Strategische Agenda
Vor dem Hintergrund ortet Thaler in einer wirtschaftsfreundlicheren Ausgestaltung des Binnenmarktes für Österreich und Tirol große Potenziale. Um diese heben zu können, gilt Thalers Engagement vorrangig der Stärkung des KMU-Sektors und der Verbesserung der Rahmenbedingungen speziell für Klein- und Mittelbetriebe. Die Forderungen der Präsidentin sind klar: „Im europäischen Binnenmarkt muss Bürokratie abgebaut und die Belastung für Unternehmen reduziert werden. Der Dienstleistungssektor ist im Vergleich zum Warenverkehr mit deutlich mehr bürokratischen Hürden verbunden. Der Aufwand beim Arbeiten über die Grenze ist enorm. Ein erster wichtiger Schritt sollte zumindest Erleichterungen für kurze und spontane Auslandseinsätze bringen.“
Auf Grundlage des Letta-Berichts, in dem auch im Bereich der Industriepolitik konkrete Instrumentarien gefordert werden, um etwa dem viele europäische Unternehmen in die USA lockenden „US Inflation Reduction Act“ entgegenzuwirken, werden zwischen den EU-Mitgliedstaaten Schlussfolgerungen abgestimmt, die beim Wettbewerbsfähigkeitsrat am 24. Mai 2024 angenommen werden sollen. Der Letta-Bericht und die Ratsschlussfolgerungen werden dann in die nächste strategische Agenda der Europäischen Union einfließen.
„Die strategische Agenda der EU wird vor einer neuen Legislaturperiode in einer informellen Tagung des europäischen Rates festgelegt. Zu den Kernpunkten der nächsten Legislaturperiode zählen: Sicherheit und Verteidigung, Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit, Energie, Migration, globales Engagement und Erweiterung“, erklärt Gregor Leitner, Direktorin-Stellvertreter und Leiter der Abteilung Außenwirtschaft der WK Tirol, das weitere Prozedere – und er hält zur durchaus spannungsreichen Ausgangssituation fest: „Die Realitäten der vergangenen Jahre und Monate – Stichworte Corona, russischer Angriffskrieg und anschließende Energiepreiskrise – hinterlassen ihre Spuren in der strategischen Ausrichtung der EU.“
Im Vergleich zur letzten strategischen Agenda (2019–2024) nimmt die grüne Transformation keinen so prominenten Platz ein, sondern ist in die Wettbewerbspolitik eingebettet. Dort betont der Entwurf auch eine aktivere Industriepolitik. Diverse Umweltthematiken wie Biodiversität werden hingegen nicht mehr erwähnt. Die Unterstützung von Maßnahmen für die Anpassung an den Klimawandel – entgegen dem bisherigen Fokus auf Maßnahmen für den Kampf gegen den Klimawandel – ist ebenfalls als kleines Novum hervorzuheben und ist womöglich einer nüchternen Lagebeurteilung fast fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Green Deals geschuldet. Aus gegebenem Anlass sind auch verschiedenste Aspekte der europäischen Verteidigungspolitik stark vertreten. Darüber hinaus gibt es ein Bekenntnis dazu, die EU-Politik zu nutzen, um europäische Interessen zu wahren. Alles in Allem scheint der veränderte geopolitische Kontext zu einem teilweisen Umdenken geführt zu haben.
„Aus Sicht der Wirtschaftskammer wäre ein verstärkter Fokus auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, insbesondere im Hinblick auf die sehr ambitionierte EU-Klima- und Umweltpolitik, sehr begrüßenswert. Ein starkes Bekenntnis zu Bürokratieabbau wäre ebenfalls sehr erfreulich. Es muss darüber hinaus weiterhin darauf geachtet werden, dass das gesamte Wirtschaftsgefüge betrachtet und in die strategischen Überlegungen miteinbezogen werden“, spinnt Außenwirtschaftsexperte Leitner den strategischen Faden weiter. „Die EU-Repräsentation der WKÖ wird die strategischen Überlegungen der Staats- und Regierungschefs im Sinne der österreichischen Wirtschaft weiter beobachten und kommentieren. Es wird erwartet, dass die Stoßrichtungen für die Jahre 2024 bis 2029 im Rahmen des europäischen Rats Ende Juni – also nach den EU-Wahlen, aber vor Bildung des neuen europäischen Parlaments und der neuen Kommission – beschlossen wird“, so Leitner.
Es bleibt spannend. Ob Lieferkettengesetz, CBAM, EU-Taxonomie, die EU-Nachhaltigkeitsstandards, Verpackungsverordnung oder Entwaldungsverordnung – alle europäischen Regularien haben ihre Auswirkungen auf die Tiroler Wirtschaft. Dass all diese und auch Top-Themen, wie der europäische Green Deal oder alle Regelungen zur Energiezukunft die Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährden dürfen – darüber herrscht absolute Einigkeit und darum stellt die Europawahl 2024 auch eine wichtige Wegmarke dar. Auf die Frage, ob es möglich ist, sich Tirol respektive Österreich ohne EU-Mitgliedschaft zu denken, sagt Gregor Leitner: „Es ist schwer möglich, sich Tirol bzw. Österreich ohne EU-Mitgliedschaft zu denken. Der europäische Binnenmarkt ist der Heimmarkt für viele Tiroler und österreichische Unternehmen.“
Im Jahr 2022 konnte Tirol einen Exportrekord in Höhe von 16,6 Milliarden Euro verzeichnen. Mehr als 60 Prozent dieser Exporte gehen in die anderen EU-Mitgliedsstaaten (ca. 10 Milliarden Euro). Im Jahr 1994 (also noch vor dem EU-Beitritt) lag das Exportvolumen bei rund 3 Milliarden Euro insgesamt, wovon Waren im Wert von ca. 2,06 Milliarden Euro in die heutigen EU-Mitgliedsländer gingen. Die Entwicklung der Tiroler Exportstruktur seither belegt den Nutzen des Binnenmarktes für die Tiroler Wirtschaft. Das Tiroler Exportvolumen in die heutigen EU-Mitgliedsländer hat sich durch den Beitritt zur EU fast verfünffacht.
„Die Exporte nach Europa sind das Rückgrat unseres Wohlstandes. Durch den Wegfall von Zollkontrollen und Wartezeiten sparen sich unsere Betriebe jährlich zwischen 2,7 und 6,85 Milliarden Euro“, weiß Gregor Leitner, Leiter der Abteilung Außenwirtschaft in der WK Tirol – und ergänzt dieses Zahlenwerk: „Der Abbau von nichttarifären Handelsbarrieren sichern Unternehmen eine Einsparung von 15-20 Prozent des Warenwertes, wodurch vor allem KMU der Markteintritt erleichtert wird. Dass die EU unsere wichtigste Exportregion und somit Wohlstandsmotor ist, zeigt sich auch in der österreichischen Exportstatistik: 70 Prozent des gesamtösterreichischen Außenhandels werden mit EU-Ländern abgewickelt.“ Österreich hat zum Zeitpunkt des EU-Beitritts Waren im Wert von ca. 33 Milliarden Euro in die heutigen EU-Mitgliedsländer exportiert – demgegenüber wurden im Jahr 2023 Waren im Wert von ca. 137 Milliarden Euro in die EU-27 exportiert. Dies stellt eine Vervierfachung des österreichischen Exportvolumens in die EU dar.