Höhere Berufliche Bildung
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Auf Augenhöhe

Ein neues Gesetz schafft die Gleichwertigkeit zwischen dem schulisch-akademischen und dem berufspraktischen System. Aufbauend auf bereits vorhandenen anerkannten Abschlüssen werden jetzt die Lücken für ein durchgängiges Bildungssystem Schritt für Schritt geschlossen.

Lesedauer: 7 Minuten

Aktualisiert am 01.03.2024

Eines ist offenkundig: Wir leben in bewegten Zeiten. Das betrifft nicht nur das politische Umfeld, sondern auch die Wirtschaft. Es entstehen laufend neue Produkte und Dienstleistungen, da sich die Anforderungen der Kundinnen und Kunden ständig wandeln. Um mit diesen Herausforderungen Schritt halten zu können, müssen sich die Kompetenzen von Unternehmerinnen und Unternehmern sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterentwickeln. Die Weichen dafür wurden mit dem Gesetz zur Höheren Beruflichen Bildung (HBB) nun gestellt.

„In Zukunft ist in jedem Bereich und in jedem Beruf ein Aufstieg möglich. Die höhere berufliche Bildung führt direkt zu anerkannten staatlichen Abschlüssen, die gleichwertig sogar bis zur Ebene von Bachelor- und Masterabschlüssen gelten“, erklärt der Leiter der Bildungsabteilung der WK Tirol, Hannes Huber. Das berufsbildende System hat sich schon bisher durch hohe Praxisnähe und den engen Kontakt zur Wirtschaft ausgezeichnet. Aus diesem Grund wurde das Erfolgsmodell der österreichischen dualen Ausbildung von vielen Ländern kopiert. Auch die herausragenden Ergebnisse bei internationalen Berufswettbewerben zeigen: die österreichische duale Bildung mit der Lehre als Ausgangspunkt ist internationale Benchmark.

Höhere Berufliche Bildung
© Nationaler Qualifikationsrahmen (NQR)


Gelungener Lückenschluss

Das ist umso bemerkenswerter, da die duale Ausbildung bislang einen markanten Makel hat: Es gibt Lücken auf diesem Ausbildungsweg. Zurzeit gibt es einzelne berufspraktische Abschlüsse wie Meister:in, Befähigte:r oder Ingenieur:in – aber nicht in allen Branchen. Zudem klafft zwischen dem Lehrabschluss und einer allfälligen Meister- oder Befähigungsprüfung eine große Lücke, oberhalb dieser Abschlüsse ist ebenfalls nichts zu finden. Das österreichische Parlament diese Lücken Ende letzten Jahres mit dem Gesetz zur Höheren Beruflichen Bildung geschlossen und damit den Weg für eine deutliche Aufwertung der Berufsbildung frei gemacht. Das Gesetz tritt im Mai 2024 in Kraft und eröffnet die Möglichkeit, die duale Bildung in Praxis und Theorie zu einem eigenständigen, durchgängigen berufspraktischen Bildungssystem auszubauen. Die Wirtschaftskammer Tirol war Initiator, ist federführend seit Jahren an der Ausarbeitung der nötigen fachlichen Grundlagen für das Gesetz beteiligt und hat auf österreichweiter Ebene im Einklang mit der WKÖ wesentlich dazu beitragen, dass diese gesetzliche Grundlage nun geschaffen wurde.

Durchgängige Bildungslaufbahnen

Damit begegnen sich die beiden Ausbildungssysteme erstmals auf Augenhöhe. Für Lehrabsolvent:innen stehen damit in Zukunft attraktive Chancen offen, sich zumindest bis auf den Level eines Master-Abschlusses zu qualifizieren, ohne dafür ein Studium belegen zu müssen - sogar in Berufsfeldern, in denen es bislang keine Meister- oder Befähigungsprüfung gibt. Die Höhere Berufliche Bildung wertet die berufliche Ausbildung wesentlich auf und schafft endlich echte Wahlfreiheit. Somit eröffnet sich jetzt eine durchgängige Bildungslaufbahn besonders für jene Menschen, die praxisorientiert sind und sich der dualen Bildung hingezogen fühlen. „Das macht den entscheidenden Unterschied: Die HBB ermöglicht es, dass jeder nach seinen Neigungen und Talenten wählen kann, welcher Beruf zu ihm passt. Es ist in jedem Beruf eine optimale Bildungskarriere möglich“, betont der Leiter des Bildungsconsultings der WK Tirol, Wolfgang Sparer.

Die neuen Qualifikationen unterstützen Mitarbeiter:innen, Unternehmer:innen und Betriebe in ihrer Weiterentwicklung.


Antwort auf aktuelle Herausforderungen

Die Höhere Berufliche Bildung bietet Antworten gleich auf mehrere Herausforderungen. Allen voran: Der akute Fachkräftemangel. Ab sofort werden sich mehr Menschen für den berufspraktischen Weg entscheiden, weil er deutlich attraktiver geworden ist und neue Perspektiven gewonnen hat. Zudem können sich bestehende Fachkräfte nun höher qualifizieren. Das trifft punktgenau die Nachfrage der Unternehmen sowie der Arbeitskräfte: Eine Umfrage des market-Instituts zeigt, dass 53 Prozent der Lehrlinge nach der Lehre eine weitere Ausbildung machen wollen.

44 Prozent wünschten sich zudem die Möglichkeit, im eigenen Beruf höhere Bildungsabschlüsse zu erwerben. Darüber hinaus kommt die Höhere Berufliche Bildung kommt auch der kleinteiligen Struktur der heimischen Wirtschaft entgegen. Die – vergleichsweise wenigen – Großbetriebe haben die Ausbildung ihrer Fachkräfte mit eigenen Akademien selbst in die Hand genommen. Klein- und Mittelbetriebe verfügen über diese Möglichkeit nicht. Sie profitieren von der Höheren Beruflichen Bildung besonders, indem sie auf neue Ausbildungswege und Qualifikationen zugreifen können. Schließlich bringt die HBB auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Vorteile: Sie verbessern ihre Stellung am Arbeitsmarkt, in dem sie über moderne, standardisierte und damit vergleichbare Qualifikationen verfügen.

Wie es weiter geht

Mit der Höheren Beruflichen Bildung wurde der Startschuss für neue und zeitgemäße Qualifikationen gelegt. Der Meisterabschluss und die Befähigungsprüfungen sind bereits integrierter Bestandteil der HBB. Die weiteren Qualifikationen und Abschlüsse der HBB werden ab Inkrafttreten des Gesetzes sukzessive je nach Bedarf von den jeweiligen Branchen definiert und ins Leben gerufen. In den kommenden Monaten und Jahren geht es somit darum, österreichweit neue HBB-Qualifikationen zu entwickeln.

„Die duale Bildung hört dann nicht mehr bei Meister- und Befähigungsprüfungen auf, sondern geht über Bildungsbausteine weiter in höhere Qualifikationsebenen“, erklärt WIFI-Geschäftsführer Paul Vyskovsky. Für die Betriebe bieten sich damit große Chancen: „Sie können ihre Betriebsstrukturen so anpassen, dass die neu geschaffenen Qualifikationen optimal zum Einsatz kommen können und die Mitarbeitr:innern, Unternehmer:innen und Betriebe insgesamt in ihrer Weiterentwicklung unterstützen “, erklärt Paul Vyskovsky. So entfalten HBB-Ausbildungen ihre volle Wirkung und verbessern damit deutlich die Wettbewerbssituation gegenüber der Konkurrenz.

Der Weg zu diesen neuen Qualifikationen geht im Bereich der Wirtschaft über die Fachorganisationen der Wirtschaftskammer. Die Branchenvertretungen werden die Vorgangsweise in ihren Betrieben durchleuchten, auf Basis dieser Ergebnisse zukunftsorientierte Betriebsstrukturen konzipieren und die optimalen Berufsbilder ableiten. Darauf aufbauend werden transparente Ausbildungs- und Qualitätsstandards auf allen Ebenen entwickelt. Die Vorbereitungskurse dafür werden von anerkannten beruflichen Bildungseinrichtungen wie dem WIFI Tirol Schritt für Schritt geschaffen. Akkreditierte Prüfungsstellen vergeben dann den formalen Abschluss.

Die HBB ist übrigens kein Experiment mit ungewissem Ausgang: Die Schweiz und Deutschland verfügen seit Jahren über ein vergleichbares System und haben damit beste Erfahrungen gemacht. Die dortige Anzahl an Absolventen:innen spricht für sich und zeigt den hohen Nutzen für die gesamte Wirtschaft durch höherqualifizierte Fach- und
Führungskräfte.

Eine Evolution mit nachhaltiger Wirkung

Die Präsidentin der Wirtschaftskammer Tirol, Barbara Thaler und WK-Fachkräftekoordinator David Narr zeigen im Kurzinterview auf, wieso mit der Höheren Beruflichen Bildung ein Meilenstein gesetzt wurde.

Barbara Thaler: Nein, es bedeutet, dass die beiden Systeme gleichwertig sind. Es ist uns in Österreich gelungen, eine gesetzliche Basis zu schaffen, die staatliche Abschlüsse in einem durchgängigen berufspraktischen Bildungssystem ermöglicht. Diese sind gleichwertig zu jenen Abschlüssen, die in einer berufsbildenden höheren Schule, einer Fachhochschule oder einer Universität angeboten werden. Für höhere Bildungsabschlüsse muss damit nicht mehr in das schulisch-akademische Bildungssystem umgestiegen werden. Das ist besonders für unsere Lehrabsolventen attraktiv.

David Narr: Durchlässigkeit - also die Möglichkeit von einem Ausbildungssystem ins andere zu wechseln - war immer gegeben. Mit dieser Durchlässigkeit hat man jedoch durchwegs „Verlierer“ erzeugt, weil dieser Systemwechsel in der Regel mit zusätzlichem Aufwand, etwa einer Studienberechtigungsprüfung, verbunden ist. Mit der Höheren Beruflichen Bildung ist nun volle Durchgängigkeit - also von unten nach oben – gegeben. Fachkräfte müssen damit für einen höheren Bildungsabschluss auf den Stufen 7 und 8 (vergleichbar mit den akademischen Titeln Master und dem Doktorat bzw. einem PhD) nicht mehr in das schulisch-akademische System wechseln. Zudem wird die Lücke zwischen dem Lehrabschluss und den Befähigungs– beziehungsweise Meisterprüfungen geschlossen.

Thaler: Die Höhere Berufliche Bildung ist eindeutig eine Evolution, die jedoch sehr nachhaltige Wirkungen entfalten wird. Es ist nicht so, dass jetzt ein Schalter umgelegt wird und sofort alles anders ist. Es ist vielmehr so, dass ab jetzt neue Qualifikationen und Berufsbilder geschaffen werden, die den Entwicklungen des Marktes entsprechen. Die HBB hat keine unmittelbare Sichtbarkeit wie etwa der Bau einer neuen Schule, aber sie wird über die kommenden Monate und Jahre eine Leuchtkraft entwickeln, die unseren gesamten Standort prägen wird.

Narr:  Ja, und zwar vor allem in folgender Hinsicht: Zu einem guten Teil sind die hohen Abbruchquoten in berufsbildenden Schulen und auch auf den Universitäten dadurch begründet, dass Jugendliche den schulisch–akademischen Weg wählen, obwohl sie für eine berufspraktische Bildung besser geeignet wären. Derartige Fehlentscheidungen sind für den Einzelnen unnötig frustrierend und lösen einen beträchtlichen volkswirtschaftlichen Schaden aus. Die nunmehrige deutliche Aufwertung des berufspraktischen Systems führt dazu, dass in Zukunft vermehrt individuell „richtige“ Entscheidungen getroffen werden und dadurch die Abbruchquoten sinken.

Thaler: Sie ist ein hervorragendes Mittel zur Fachkräftesicherung. Es werden mit der HBB neue Qualifikationen und Berufsbilder entstehen, die den Anforderungen des Marktes entsprechen und zudem rasch angepasst werden können. Das sorgt dafür, dass sich die Kompetenzen unsere Mitarbeiter:innen stetig weiterentwickeln und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit unseres gesamten Standorts steigt. Wir leben in einer Wissensgesellschaft und die HBB ist das geeignete Instrument, um unsere Fachkräfte punktgenau mit den benötigten Qualifikationen auszustatten.