„Die Einzelhändler sind die Bergbauern der Innenstädte“
WK-Vizepräsident und Handelsexperte Martin Wetscher erklärt, wie der heimische Handel von zwei Seiten in die Zange genommen wird, warum die Konkurrenz seitens der Online-Giganten alles andere als fair ist, wo neue Chancen für Tiroler Geschäfte liegen und welchen Stellenwert der Handel für die Ortskerne hat.
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Wie geht es dem Tiroler Handel?
In Summe herrscht hohe Unsicherheit – bei den Händlerinnen und Händlern, aber auch bei den Konsumentinnen und Konsumenten. Das bremst die Kauflaune. Der Handel wird von zwei Seiten in die Zange genommen: auf der einen Seite von dramatisch gestiegenen Kosten für Personal, Energie, Mieten und Material. Die Löhne sind zwar deutlich gestiegen, aber den Mitarbeiter:innen bleibt zu wenig Netto von Brutto, die Steuerlast und insbesondere die Lohnnebenkosten sind viel zu hoch. Auf der anderen Seite bekommt der heimische Handel Druck durch unfairen Wettbewerb.
Sie sprechen die Online-Konkurrenz an?
Das Problem ist inzwischen nicht mehr so sehr Amazon, es scharren schon die Nachfolger in den Startlöchern. Diese neuen Goliaths mit den Namen Temu und Shein stehen in der Kraftkammer und trainieren ihre Muskeln auf. TikTok will Ende des Jahres ebenfalls in den Markt einsteigen und hat dafür Millionen Adressen zur Verfügung.
Wie unterscheiden sich die neuen Online-Riesen von Amazon?
Temu und Shein gehen es deutlich aggressiver an als Amazon, liefern direkt vom Produktionsband zum Endkunden und drücken damit die Preise auf ein Level, das für europäische Produzenten nie mals erreichbar ist. Und wie diese Online-Giganten mit Vorschriften rund um Verbraucherschutz, Produktsicherheit, Datenschutz, Abfallwirtschaft, Umwelt und Steuern umgehen, ist völlig intransparent. Genau darum fordern sämtliche Interessenvertretungen im europäischen Handel effektive Regelungen ein, damit am Markt Waffengleichheit herrscht. Wir fürchten uns nicht vor Konkurrenz – wenn mit offenem Visier gekämpft wird. Hier herrscht aber eine eklatante Schieflage.
Das sieht ganz danach aus, als ob heimische Händler chancenlos sind.
Nicht ganz. Auf der einen Seite spielen die Konsumentinnen und Konsumenten eine große Rolle. Speziell Jüngeren sind Umweltschutz und Klima nicht völlig egal. Daher muss ihnen bewusst gemacht werden, welche Waren sie sich ins Haus liefern lassen, wenn sie bei chinesischen Billiggiganten einkaufen, die quasi ohne Kontrolle agieren. Ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Regionalität verträgt sich nicht mit ökologisch und sozial fragwürdig produziertem Billigramsch aus Fernost. Und es gibt noch eine zweite Komponente: Online alleine ist nicht alles.
Was meinen Sie damit?
Einkauf ist mit Emotion verbunden und in vielen Fällen mehr als eine reine Transaktion. Hier kann der stationäre Handel punkten. Es geht um Unterhaltung und persönlichen Service, die online nicht in gleicher Weise geboten werden können. Stationäre Geschäfte ermöglichen einzigartige und authentische Erlebnisse, die digital schwer zu realisieren sind, wie das vollständige Eintauchen in Markenwelten oder das Erleben echter sozialer Interaktionen. Der Handel kann immer noch Anleihen an den Basar im Orient nehmen, wo man sich trifft, austauscht und menschliche Nähe erlebt. Natürlich brauchen heimische Händler auch einen Online-Auftritt, aber die Kraft liegt in der Verbindung von analog und digital. Es gibt immer wieder junge, kreative Händlerinnen und Händler, die mit dieser Kombination aus stationärem Geschäft und spritzig gestalteter Website neue Kundinnen und Kunden begeistern. Sie bringen frische Impulse, welche die Politik verstärken muss.
Sie sprechen die Ortskernbelebung an?
Ja, inzwischen erkennen zum Glück immer mehr Politikerinnen und Politiker, dass der Einzelhandel im Zusammenspiel mit der Gastronomie für Innenstädte eine ähnlich wichtige Funktion wie Bergbauern für unsere Kulturlandschaft erfüllen. Unter schwierigen Bedingungen wird es Unterstützung seitens der Politik brauchen, damit sie uns erhalten bleiben. Denn wenn die Geschäfte sterben, sterben die Ortskerne, und die Jungen wandern ab. Dem müssen wir alle gemeinsam entgegenwirken: die Konsumentinnen und Konsumenten mit einem Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Fairness; die Händlerinnen und Händler mit innovativen Ideen und Einkaufserlebnissen; und die Politik mit gezielten Impulsen zur Stärkung der Innenstädte.