Der Wirtschaftsdelegierte von London, Michael Müller, schreibt in einem Gastkommentar über die aktuelle Situation in Großbritannien.
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Großbritannien und die 5 Ds

Gastkommentar vom Michael Müller, Wirtschaftsdelegierter London.

Lesedauer: 4 Minuten

Aktualisiert am 15.04.2024

„You can’t always get what you want“ – was die Rolling Stones 1969 sangen, fasst heute, 2024, die Post-Brexit Welt der Britinnen und Briten ganz gut zusammen; aber – die Stones füllen noch immer die Stadien. Lassen wir also die Kirche im Dorf: Natürlich wurden vor dem Brexit ein dynamisches Global Britain fernab einer verkrusteten EU-Wirtschaft, weniger Immigration und mehr Mittel für öffentliche Services versprochen – und nein, eingetreten ist das nicht. Aber auch den prophezeiten Wirtschaftskollaps hat es nicht gegeben: Das Vereinigte Königreich ist die sechsgrößte Wirtschaft der Welt, ein gerade in Zukunftsbereichen technologieführendes Land und besitzt mit der kosmopolitischen Weltmetropole London einen Finanzplatz, Wissensknoten und Startup Ökosystem, der in Europa seinesgleichen sucht.
Und überhaupt, das „B“ Wort: Der exklusive Blick auf die Jahre tiefer gesellschaftlicher Spaltung behindert einen differenzierten Blick auf die Zukunft. Denn wichtig ist doch: Wie schlägt sich das Vereinigte Königreich mit den gegenwärtig oft als 5Ds titulierten wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit: Deglobalisierung, Demographie, Digital, „Debt“/Verschuldung und Dekarbonisierung? Und warum sollte das Unternehmerinnen und Unternehmer in Vorarlberg interessieren?
Weil es sich lohnt die vielfältigen Chancen am zweitgrößten Markt Europas zu nutzen und mit innovativen Angeboten zu punkten. Mit 5,447 Milliarden Euro Warenexporten im Jahr 2023 (+6,7 Prozent) war das Land der 10. wichtigste Zielmarkt Österreichs und bereits 2022 konnte das Pre-Brexit und Pre-Covid Niveau erreicht werden. Im Dienstleistungssektor liegt das Vereinigte Königreich (VK) sogar auf Rang fünf der Zielmärkte und etwa 300 österreichische Firmenniederlassungen sind im VKaktiv. Der zusätzliche administrative Aufwand eines Drittmarktes soll nicht abschrecken, denn die Konkurrenz schläft nicht.
 
Kommen wir zu den 5 Ds:
Deglobalisierung: In Zeiten von Krieg, geopolitischen Spannungen und verstärkten Blockbildungen tut sich das Vereinigte Königreich schwer, die erhoffte Global Britain Dividende zu realisieren. Der ursprünglich propagierte Ausstieg aus dem regulatorischen Orbit der EU wurde in der Zwischenzeit relativiert, da die eigene Industrie nicht vom wichtigsten Exportmarkt abgekoppelt werden will. Das zwischen der EU und VK geschlossene Handelsabkommen hat vielfältige offene Themen hinterlassen, Verbesserungswünsche gibt es auf beiden Seiten. Eine Zollunion oder gar Rückkehr in den EU-Binnenmarkt sind kein Thema. Die bisher abgeschlossenen Freihandelsabkommen mit Australien und Neuseeland und auch der Beitritt zu CPTPP, einem wichtigen Handelsblock aus elf Ländern von Chile bis Japan, tragen nur ganz geringfügig zum BIP bei. Dem gegenüber stehen die Brexit Kosten: Das staatliche Office for Budget Responsibility geht davon aus, dass der Brexit das BIP langfristig um vier Prozent nach unten drückt.

Demographie: 2023 war ein Rekordjahr bei der Migration mit ca. netto 700.000 Immigrant:innen, die zu einem ganz überwiegenden Anteil auf legalem Weg in das VK kommen, um zu arbeiten oder zu studieren. Geändert hat sich die Herkunft – von EU-Ländern auf Indien und andere Drittländer. The Economist bezeichnete erst kürzlich die gute Aufnahmefähigkeit und rasche Integration als britischen Wettbewerbsvorteil.

Digital: Der hohe Digitalisierungsgrad der britischen Wirtschaft wird von österreichischen Niederlassungen im VK als bester Standortfaktor neben der hohen Rechtssicherheit und dem flexiblen Arbeitsrecht gereiht. Das Land will im KI Zeitalter ganz vorne dabei sein, schon jetzt gibt es 3.000 KI-Unternehmen mit 50.000 Beschäftigten und allen voran London kann seine Rolle in der Spitzenforschung, seinen Talentepool und die Kapitalstärke ausspielen. Das zeigt sich auch bei den Exporten: Der Brexit hat die Exporte von Waren mittelfristig belastet (2023 -4,4 Prozent). Der Anteil von Dienstleistungen hat sich aber dank dynamischen Wachstums (2023 +15,2 Prozent) auf 56 Prozent des Gesamtexports erhöht. Eine verstärkt digitale Erbringung vieler Services hat die Anfälligkeit für externe Schocks gesenkt.

„Debt“/Verschuldung: Die Staatsverschuldung ist während der Covid Krise stark angestiegen und soll angesichts gestiegener Finanzierungskosten und Zusatzaufwendungen für eine alternde Bevölkerung von aktuell 97,7 auf 95 Prozent im Jahr 2025 gesenkt werden. Geringfügige Steuersenkungen (vier Prozentpunkte bei der National Insurance) und Anstoßfinanzierungen für Projekte in den Zukunftsbereichen Advanced Manufacturing, Batterien/eMobility und Net Zero stehen geplanten Ausgabenkürzungen gegenüber. Für die neue Regierung – alle Umfragen deuten auf einen Sieg der Labour Partei bei den für Herbst erwarteten Parlamentswahlen hin – gibt es damit einen sehr engen Spielraum für Konjunkturmaßnahmen, eine Erhöhung der chronisch niedrigen öffentlichen Investitionen und Steuersenkungen.

Dekarbonisierung: Das Vereinigte Königreich verfolgt eine Net-Zero-Strategie und konnte die CO2 Emissionen im Zeitraum 1990 bis 2022 v.a. dank Phase-out von Kohle für die Stromproduktion um 50 Prozent senken. Das ist deutlich mehr als andere G7-Länder und große Volkswirtschaften. Seit 2010 konnte der Anteil erneuerbarer Energieträger (v.a. dank Offshore Wind) an der Stromproduktion von sieben auf 40 Prozent gesteigert werden. Zusätzlichen CO2 freien Strom wird auch Nuklearkraft liefern. Bis 2030 sollen vier Carbon Capture & Storage Cluster entstehen, wo jährlich 20-30 Mio. Tonnen CO2 gespeichert und fünf GW Wasserstoff produziert werden. Bestehende Infrastruktur (Häfen, Pipelines, Reservoirs, Offshore Windanlagen) wird dafür genutzt und soll „alte“ Industriestandorte mit neuem Leben erfüllen.

Die nächsten Jahre bringen daher eine Mischung aus sektoraler Dynamik, generell aber überschaubarem Wachstum. Der IWF sieht das Vereinigte Königreich beim BIP-Wachstum 2024-25 mit kumuliert 2,2 Prozent im Mittelfeld der G7 Wirtschaften (USA 3,8 Prozent, D 2,1 Prozent). Und in diesem Mittelfeld, vor allem aber in den Wachstumssektoren ist noch viel Potential für österreichische Unternehmen. Wie singen die Stones weiter: „But if you try sometime you‘ll find you get what you need”.