Eine gute Streitkultur als Grundlage für die Demokratie!
Marie-Luisa Frick ist assoziierte Professorin an der Universität Innsbruck. Sie forscht unter anderem in den Bereichen Ethik sowie Rechts- und politsche Philosophie und setzt sich in diesem Kontext mit der gesellschaftlichen Streitkultur auseinander. Warum wir uns ohne Streitkultur immer mehr voneinander abschotten werden und es nötig ist, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren erzählt sie im Gespräch.
Lesedauer: 6 Minuten
Zum besseren Verständnis: Was versteht man eigentlich unter Streitkultur?
Streitkultur meint, dass es innerhalb einer Gruppe bestimmte Regeln für die Austragung von Meinungs-
verschiedenheiten gibt, die in der Haltung gründen und dass diese Meinungsverschiedenheiten wertvoll sind. Diese Gruppe kann eine Familie, eine Schulgemeinschaft oder ein Wirtschaftsbetrieb sein, aber auch die Gesellschaft als Ganzes. In meinen Arbeiten beschäftige ich mich vor allem mit Streitkultur innerhalb liberaler demokratischer Gemeinwesen und ihrer Grundrechte.
Was zeichnet eine gute Streitkultur aus und warum wäre sie in der heutigen Zeit besonders wichtig?
Sie zeichnet aus, dass die Regeln für alle gleich gelten und dass die zugrunde liegende positive Einstellung zu Meinungsvielfalt auch dann nicht zusammenbricht, wenn Meinungen im Einzelfall anstößig oder schwer erträglich sind.
Eine gute Streitkultur ist gegeben, wenn Menschen unterschiedlicher Meinung miteinander in Austausch treten und sich nicht aus dem Diskurs zurückziehen oder aus ihm hinausgedrängt werden. Streitkultur ist immer wichtig, aber viele Menschen haben gerade in den vergangenen Jahren den Eindruck gewonnen, dass eben nicht mehr sachlich über bestimmte „heiße Eisen“ gesprochen wird und Andersdenkende oft abschätzig behandelt werden. Ob beim Thema Migration, Klima, Pandemie, Geschlecht oder Nahost, wir können, so meine Überzeugung, die Welt, in der wir leben und unsere Mitmenschen nur verstehen, wenn wir in Gedankenaustausch auf Augenhöhe treten. Und wir können als politisches Gemeinwesen Probleme nur dann lösen, wenn wir aus unterschiedlichen Sichtweisen und Vorschlägen die besten herausfiltern. Dazu aber muss alles auf den Tisch, oder anders gesagt: Jeder muss eine Stimme haben.
Welche Rolle spielt Empathie in der Kommunikation, insbesondere wenn es um kontroverse Themen geht?
Eine entscheidende. Die Welt aus der Position einer anderen Person heraus zu sehen, ist nicht möglich, aber man kann sich durchaus bemühen. Und darum geht es. Es ist gerade bei heiklen Themen hilfreich, dem Gegenüber zu signalisieren, dass man interessiert ist, zu verstehen, weshalb er oder sie so denkt, nicht einzig allein am Widerlegen und Entgegnen. Häufig wird aneinander vorbei gestritten, wenn das Bemühen um Verstehen ausbleibt. Dann werfen Menschen einander Begriffe um die Ohren, die für sie unterschiedliche Bedeutungen haben. Ein solcher Streit hat keinen Mehrwert, er führt höchstens zu emotionalen Verletzungen und Verhärtungen in den eigenen Ansichten. Da solche Erfahrungen sich abschreckend auf die Diskussionsbereitschaft auswirken können, sollten wir uns empathisch bemühen, andere eben nicht auf solche Weisen zu frustrieren.
In Untersuchungen zum Beispiel sagen Menschen, die mit Andersdenkenden debattieren mussten, das Schönste für sie war, dass man einander trotz der Unterschiede als Mensch respektvoll begegnet ist und dass sie das nicht erwartet hatten. Je unterschiedlicher die Meinungen, desto höher die Dankbarkeit für erwiesenen Respekt. Darum geht es: Wir sind und bleiben, so unterschiedlich wir politisch denken mögen, konkrete Menschen mit Stärken, Schwächen und Potenzialen.
Welche Auswirkungen hat eine schlechte Streitkultur auf die Gesellschaft als Ganzes?
Ohne gute Streitkultur werden sich Menschen immer weiter voneinander abschotten, weil es (auch emotional) zu anstrengend ist, sich mit Diskursrüpeln auseinanderzusetzen. Damit gehen der Gesellschaft Stimmen verloren, sie wird ärmer. Zugleich verstärkt sich die Lagerbildung, da laute Extrempositionen sich leichter Gehör verschaffen und medial auch besser verbreiten. Die Andersdenkenden sind dann oft bloß eine Karikatur, im schlimmsten Fall Feinde, die man verachten kann und die nicht wirklich dazugehören. Für eine intakte Demokratie sind nicht nur Institutionen wichtig, sondern auch Bürger:innen, die miteinander respektvoll umgehen. Polemik, scharfe Kritik, das darf es natürlich geben, aber man sollte sich vor Feindbildern hüten, die kein gutes Argument und keinen ehrlichen Vermittler auf der anderen Seite mehr gelten lassen. Hier können symbolische Respektbezeugungen auch in harten Auseinandersetzungen sehr viel bewirken.
Welche Rolle spielen Fakten und Evidenz in der Streitkultur, und wie können wir sicherstellen, dass Diskussionen auf fundierten Informationen basieren?
Jede Diskussion, jede Streitmasse hat verschiedene Teilbereiche: Bewertungen, moralische oder weltanschauliche Überzeugungen und Tatsachenbehauptungen. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie grundsätzlich verifiziert oder falsifiziert werden können, sich also als wahr oder falsch erweisen, wenn man sie prüft. Nur: Niemand von uns kann alle Tatsachenbehauptungen, die er oder sie vertritt, selbst prüfen. Vieles, was wir für wahr erachten, glauben wir, ohne es je überprüft zu haben, auch weil wir das oft gar nicht könnten. Das rückt den Wert vertrauenswürdiger Expertise in den Blick, auf die wir in so vielen Fragen angewiesen sind. Welche Experten vertrauenswürdig sind, darüber wird nun häufig selbst gestritten und auch in der Wissenschaftsphilosophie rege diskutiert. Mein eigener Zugang ist, dass ich Fachleuten grundsätzlich vertraue, wenn sie zu Fragen ihres Faches sprechen und ich den Eindruck habe, dass sie mich nicht bevormunden möchten oder ihre Expertise politischen Zielen unterordnen. Auch denke ich, dass wir viel mehr Wissenschaftsbildung benötigen, damit jeder verstehen kann, wie die Wissenschaften arbeiten und welche Fragen mit welchen Methoden geklärt werden und dass Wissenschaft keine Wahrheitsreligion ist, der man sich unterwerfen muss, auch wenn es medial leider manchmal so dargestellt wird.
Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um den Dialog zwischen Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zu fördern und dabei konstruktive Ergebnisse zu erzielen?
Menschen brauchen Räume, um sich zu begegnen und auszutauschen. Virtuelle Räume haben bekannte Vorteile, aber auch gewichtige Nachteile, wie etwa die Simulation von Meinungen, Desinformations-
Kampagnen und Anonymität. Ich halte es daher aus demokratischer Sicht für wichtig, neben virtuellen Foren, klassische physische Räume bereitzustellen: Diskussionsabende, Vortragsrunden, Debattierclubs etc.
In solchen Formaten können Menschen im Idealfall am guten Beispiel lernen, wie man miteinander umgeht und wie nicht, was ein gutes Argument ist und dass es okay ist, dass Menschen unterschiedliche Ansichten haben und diese äußern dürfen. Es ist daher besonders schade, wenn solche Debattenräume unter Druck geraten, wenn Veranstalter:innen sich zu sehr vor Gegenwind fürchten oder manche meinen, bestimmte Ansichten dürfen gar nicht gehört werden. Das stimmt bei einigen extremen Positionen oder Gewaltaufrufen, aber manchmal scheint mir, uns gehen die Proportionen verloren. Nicht alles, was umstritten ist, ist auch schon jenseits des Diskutierbaren.
Warum neigen Menschen dazu, sich in polarisierten Positionen zu verhärten?
Zu dieser Frage wird derzeit weltweit von Psychologen, Politologen, Soziologen und Philosophen intensiv geforscht. Es scheinen viele Faktoren zusammen zu kommen: Meinungsbildung ist ein sozialer Prozess und unterliegt oft Gruppendenken. Damit ist gemeint, dass man den Aussagen von den „eigenen Leuten“ mehr vertraut und leicht verleitet wird, alles, was andere sagen, abzuwerten. Man spricht hier von moderner „Stammesbildung“ oder Tribalismus. Es ist auch schlicht einfacher, in Schwarz und Weiß zu denken, denn dadurch erscheint die Welt weniger kompliziert. Aber sie ist kompliziert und sollte man sich das auch selbst zumuten und zugestehen: Für die großen Probleme unserer Zeit gibt es keine einfachen Antworten.
Und auch wenn nicht immer beide Seiten gleich recht haben, niemand ist allwissend und unfehlbar. Mit Ambiguität umgehen lernen, heißt erwachsen zu werden. Das gilt für den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt.
Welche Schritte müssen unternommen werden, um die Qualität der Online-Diskussionen zu verbessern?
Da spielen Regulierung, also Recht und Ethik eine gleichwertige Rolle. Um für alle einladend und inklusiv zu sein, brauchen online-Diskussionen Moderation, aber auch Nutzer:innen, die sich um konstruktive Debatten und respektvollen Umgang bemühen.
Eine Gefahr der Regulierung ist, dass sie Diskurse zu stark einengt, was wir zum Beispiel bei Facebook sehen seit die EU hier strenge Regeln vorgibt, die in der Praxis zu „Overblocking“, also Zensur im Zweifel führen. Auch wenn sich viele Debatten heute vor allem online abspielen, sollten wir nicht vergessen, dass die besten Gespräche immer noch von Angesicht zu Angesicht geführt werden. Wo Menschen sich zeigen und nicht hinter Pseudonymen verstecken und vielleicht nur jemandes PR erledigen. Und wo viel eher die angesprochene Empathie entstehen kann, die wir so dringend brauchen.
Vielen Dank für das Gespräch!