Simon Burtscher Mathis
© Michael Kreyer Fotografie

„Jeder Erwachsene ist ein Rolemodell für Kinder“

Interview mit Simon Burtscher-Mathis: Werte für Bildung. Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft auf. Weltweite Pandemien, der Klimawandel, die Digitalisierung, der wirtschaftliche- und demographische Wandel und die Individualisierung prägen ihre Sozialisation. Wie können wir ihnen Orientierung geben? Der Soziologe Simon Burtscher-Mathis dazu im Gespräch mit „Die Wirtschaft“.

Lesedauer: 4 Minuten

Aktualisiert am 23.05.2024

Herr Burtscher-Mathis, gleich vorweg, geht aus Ihrer Sicht den Jugendlichen die Begeisterung Dinge zu erlernen verloren?
Wir sollten mit verallgemeinernden Einschätzungen und Bewertungen vorsichtig sein. Kinder und Jugendliche können sich heute genauso stark fürs Lernen begeistern wie früher. Die Frage ist, wofür und unter welchen Bedingungen sie sich begeistern. Erinnern wir uns an unsere eigene Kindheit: Wann haben wir mit Begeisterung gelernt? Wichtig sind Freude und eigenes Interesse. Wir müssen also verstärkt darauf achten, dass wir Kinder beim Lernen bei ihren eigenen Interessen abholen, ihre intrinsische Motivation wecken und ihnen den Nutzen für sie selbst vermitteln. Begeisterndes Lernen ermöglicht Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Wenn ich einen Kuchen backe, am Fußballplatz spiele, an der Kletterwand klettere, den Fahrradreifen von meinem Fahrrad flicke, ein Bild male, ein Musikstück spiele oder etwas Neues, das mich interessiert verstehe, dann erfahre ich mich selbst als wirksam. Im schulischen Lernen fehlt dieser persönliche Bezug sehr oft. Die Schüler:innen lernen für die Schule und nicht für sich selbst. Es fehlt ihnen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Wenn sie das erworbene Wissen mit sich selbst und ihrer Lebenserfahrung in Beziehung setzen können, verändert sich ihr Zugang und ihre Motivation.

Veränderung heißt auch, andere Kompetenzen werden in Zukunft wichtiger. Welche Fähigkeiten brauchen wir für einen konstruktiven Umgang mit Transformationsprozessen?
Transformationsprozesse wie die Individualisierung oder die Digitalisierung sind immer mit intendierten und nichtintendierten Folgen verbunden. In der Regel sind wir durch die ungeplanten, unerwünschten Folgen herausgefordert. Wir nutzen z.B. selber die Vorteile des Internets für die Planung von Reisen oder Hobbies, finden es aber störend, wenn unsere Kinder das Internet zur Freizeitgestaltung nutzen und ihre Zeit mit Social Media verbringen. Mit nichtintendierten Folgen von Veränderung entsteht immer Verunsicherung. Weil die Erfahrungen neu sind, wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen. Aktuell finden viele Transformationsprozesse parallel statt. Die Individualisierung, die Emanzipation der Frau, die Digitalisierung, der wirtschaftliche und demographische Wandel und der Klimawandel verstärken sich in ihren Wirkungen wechselseitig. Damit steigt das Ausmaß an Verunsicherung. Die nächsten Generationen brauchen die Fähigkeit Unsicherheit im Kontext von Veränderung anzunehmen. Sie müssen lernen, Veränderungen zu verstehen. Denn im Verstehen werden die Handlungsspielräume sichtbar. Wenn klar ist, wo wir handlungsfähig sind, wird die Veränderung weniger bedrohlich. Ein Beispiel: Die Digitalisierung findet statt, ob wir wollen oder nicht. Wie wir davon betroffen sind und wie wir darauf reagieren, können wir aber mitentscheiden.

Gute Bildung ist ein dehnbarer Begriff. Was braucht die Jugend von heute mehr denn je?
Gute Bildung ermöglicht in meinem Verständnis zunächst menschliche Grundbedürfnisse nach Entwicklung zu stillen. Sie fördert Verbundenheit & Vertrauen und schafft damit die Voraussetzung, um in der Welt sein zu können. Sie stärkt meine Vorstellungskraft und die Begeisterung fürs Leben. Und sie schafft Orientierung, um meinem eigenen Leben einen Sinn geben zu können. Das klingt abstrakt, ist aber sehr lebenspraktisch. Ohne Verbundenheit und Vertrauen können Menschen sich nicht gesund entwickeln und nicht lernen. Ohne Begeisterung entsteht keine Motivation und ohne Orientierung, kann ich meinen Weg nicht finden. Wenn wir über gute Bildung reden, sollte deshalb die Erfahrung von Verbundenheit und Vertrauen, die Begeisterung fürs Lernen und die Orientierung für meine Verortung in der Welt und im Leben im Vordergrund stehen.

Sie betonen, dass die Vorstellungskraft die Grundlage für Entwicklung ist. Wie ist das zu verstehen?
Am Beginn jeder gesellschaftlichen Entwicklung steht die Vorstellung von einem erstrebenswerten Zustand. Der Mensch strebt nach Verbesserung seiner Lebenssituation. Das ist der Treiber von Entwicklung. Wenn wir keine Vorstellung davon haben, was wertvoll und gut ist, wissen wir nicht wofür wir uns einsetzen wollen. Deshalb ist die Idee vom Guten, Schönen und Wertvollen eine notwendige Voraussetzung für Entwicklung. Das Streben der Menschheit nach Schönheit in Kunst und Kultur ist Ausdruck von kreativer Intelligenz. Sie ist gestaltend (nicht passiv reproduzierend), auf ein mit Werten verbundenes Ziel gerichtet (schafft Orientierung nicht Zerstreuung) und führt zu einer Verbesserung/Weiterentwicklung.

Die Herausforderungen, mit denen Kinder und Jugendliche umzugehen lernen müssen, sind vielfältig; wie können wir sicherstellen, dass sie sich in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft orientieren können?

Kinder brauchen sichere Bindungen und Beziehungen zu erwachsenen Bezugspersonen und gleichaltrigen Peers. In diesen Bindungen erfahren sie Vertrauen und entwickeln ihre Wertvorstellungen. Und das schafft Orientierung.

Aber auch die Eltern, Gemeinschaften und die Gesellschaft insgesamt tragen hier eine Verantwortung, um Kindern und Jugendlichen Orientierung zu geben und die Werte von Verbundenheit, Kooperation, Begeisterung und Vorstellungskraft zu fördern...
Verbundenheit und Wertvorstellungen entstehen in vertrauensvollen Beziehungen. Ohne Verbundenheit haben wir keine Identität. Wir lernen als Kinder von unseren Eltern und anderen Erwachsenen was wichtig und wertvoll ist. Daraus entsteht Identität und Orientierung.

Angesichts der Digitalisierung und der zunehmenden Virtualisierung des sozialen Lebens, wie können wir sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche dennoch echte zwischenmenschliche Beziehungen und Verbundenheit erleben?
Kinder lernen über Beobachtung. Deshalb ist jeder Erwachsene ein Rolemodell für Kinder. Wir alle entscheiden darüber, was wir mit unseren Kindern unternehmen, wohin wir sie mitnehmen und was wir ihnen „vom Leben“ zeigen. Wenn wir selber keine Zeit für Beziehungen und Verbundenheit haben, wie sollen das dann unsere Kinder lernen? Ich denke wir sollten uns viel öfter an der eigenen Nase nehmen und uns fragen, ist das was ich tue ein gutes Vorbild? Möchte ich, dass meine Kinder, das so machen wie ich? Denn vieles was wir an unseren Kindern kritisieren, leben wir ihnen selber vor. Wir beklagen uns, dass sie zu viel Zeit in Social Media verbringen, fragen uns aber nicht, welche attraktiven Alternativen wir ihnen anstatt dessen anbieten. Wir fordern oft Dinge von Kindern, ohne ihnen einen guten Weg dafür anzubieten. Wenn wir wirklich wollen, dass Kinder Verbundenheit mit uns und dem Leben erfahren, müssen wir uns Zeit für die Beziehung und Auseinandersetzung mit ihnen nehmen.