EU-Kommissar Johannes Hahn
© Lieven Creemers

„Die EU erfordert Leidenschaft“

EU-Kommissar Johannes Hahn spricht im „Die Wirtschaft“-Interview darüber, warum die Zukunft Europas nur mit offenen Grenzen gelingen kann.

Lesedauer: 2 Minuten

Aktualisiert am 03.09.2024

Europa muss unabhängiger und stärker werden, sonst kann es sterben – prognostizierte kürzlich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. Wie steht es wirklich um Europa?
Macron neigt zur verbalen Provokation und löst damit Diskussionen aus. Seine Ansicht teile ich nicht und wie wir wissen, Totgesagte leben länger. Die EU hat immer bewiesen, dass sie besonders in Krisen und bei Herausforderungen gut funktioniert. Was es aber dringend bräuchte, sind schnellere Entscheidungen, wenn es darauf ankommt. Vor allem in außenpolitischen Fragen würde nicht immer Einstimmigkeit aller 27 Mitgliedsstaaten erforderlich sein.

Europa fällt weiter hinter die USA und China zurück. Wie kann man den Wirtschaftsstandort sichern?

Die Globalisierung schreitet voran, daher müssen wir in der EU noch mehr zusammenarbeiten. Unsere Stärke ist der Binnenmarkt, darauf müssen wir aufbauen. Jede Stimme hat Gewicht und muss ihren Weg von Kärnten nach Österreich bis in die EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern finden. Das heißt aber auch, Grenzen in den Köpfen abzuschaffen und Spannungen, Gegensätze und Konfrontationen durch das Zusammenstehen in einer großen Familie zu überwinden – ohne Gewalt.

Was entgegnen Sie EU-Skeptikern und Kritikern?
Was wäre die Alternative zur EU? Zäune hochziehen und Grenzen schützen, ist ein Irrweg. Das haben wir bei Großbritannien gesehen. Noch dazu in einem Land wie Österreich, in dem jeder zweite Arbeitsplatz vom Export abhängig ist. Die Welt ist in Unordnung geraten und ein Land alleine kann sich diesem Chaos nicht stellen. Nur gemeinsam kann uns das gelingen. Alles andere wäre kontraproduktiv und eine Attacke auf die Sicherheit und den Wohlstand.

Inwieweit schadet das innenpolitische Wirr-Warr dem Ansehen Österreichs auf EU-Ebene?
Jedes Land hat seine innenpolitischen Themen, doch in Österreich  sind diese gehäuft. Österreich ist an der Spitze bei Enthaltungen im Europäischen Rat, was einer Ablehnung gleichkommt. Das heißt, in der Regierung wurde kein gemeinsamer Nenner gefunden. Um auf EU-Ebene lobbyieren zu können, ist aber eine offensive Beteiligung gefragt. Dinge ausdiskutieren, eine gemeinsame Position entwickeln und einen Kompromiss eingehen, das ist in einer Regierung gefragt und keine Mauschelei. Minister ist man für ganz Österreich, für alle, und nicht nur sein Klientel.

In welche Bereiche werden EU-Fördermittel in den nächsten Jahren fließen?
Förderungen sind Anschubfinanzierungen für Projekte, die im besten Fall allen einen Vorteil bringen. Der Schwerpunkt bleibt auf der Digitalisierung und dem grünen Übergang. Deshalb fördert die EU aktuell mit 4,2 Millionen Euro drei Mobilitätsprojekte in Kärnten. Zum Bürokratieabbau wäre es wünschenswert, Gesetze mit einer Ablauffrist zu versehen.

Stichwort Rechtsruck: Welche Herausforderungen warten auf die EU?

Kein Extrem, weder links noch rechts, hat uns je vorangebracht. Hier müssen wir wachsam sein: Wehret den Anfängen. Ebenso wenn Länder wie China ihr diktatorisches Lebens- und Gesellschaftsmodell in Europa unter dem Deckmantel „Business“ salonfähig machen wollen. Indien, Asien, Afrika und Lateinamerika können neue Verbündete werden. Europa sollte sich zum Vorreiter entwickeln und nicht nur ein Lieferant sein, beschränkt auf  Tourismus und Kultur. Wir haben eine starke Industrie und eine starke Struktur bei den Klein- und Mittelstandsbetrieben.

Wird es in fünf Jahren noch den „European Way of Life“ geben – ein funktionierender Rechtsstaat, ein Leben in Frieden, Freiheit, Wohlstand?
Ja, das wird sich ausgehen. Wenn die Vernunft die Oberhand behält, die Demokratie gepflegt wird und wir mit geduldiger Leidenschaft weiter an unseren Zielen arbeiten!


Danke für das Gespräch!
Interview: Claudia Blasi