Sparte Industrie

EU-Industriestrategie: Game-Changer Corona erfordert Neufokussierung

Rasche Nachjustierung muss Erkenntnisse aus Corona-Krise miteinbeziehen und Industrie beim Wiederaufschwung umfassend unterstützen

Lesedauer: 6 Minuten

11.03.2023

Die Covid-19-Pandemie hat Schwachstellen unserer ökonomischen Strukturen mit voller Härte aufgezeigt. Dennoch konnte Europas Industrie auch Stärken bei der Aufrechthaltung lebensnotwendiger Produkte und Versorgungsketten demonstrieren. Lehren aus den letzten Monaten müssen jedenfalls zur Nachjustierung der europäischen Industriepolitik führen. Diese Neufokussierung ist in Anbetracht der massiven Auswirkungen der Corona-Krise auf die europäischen Volkswirtschaften, deren Ausmaß zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Strategie Anfang März noch nicht absehbar war, von besonderer Dringlichkeit.

Wettbewerbsfähigkeit, Digitalisierung und Klimaneutralität

„Die europäische Industrie ist der Motor für Wachstum und Wohlstand in Europa. Sie funktioniert am besten, wenn sie auf das zurückgreift, was sie stark macht: die Menschen mit ihren Ideen und Talenten, ihrer Vielfalt und ihrem Unternehmergeist“, erklärte Präsidentin Ursula von der Leyen anlässlich der Präsentation der neuen EU-Industriestrategie am 10. März, einige Tage vor dem Lock-Down der Wirtschaft in Europa.

Der Vorschlag enthält einen neuen Ansatz für die europäische Industriepolitik, der nach Aussage der EU-Kommission fest in europäischen Werten und sozialmarktwirtschaftlichen Traditionen verankert ist und alle Akteure der europäischen Industrie, einschließlich großer und kleiner Unternehmen, innovativer Start-ups, Forschungszentren und Dienstleistern unterstützt. Die Kommission will unter anderem die EU-Wettbewerbsvorschriften und die Auswirkungen ausländischer Subventionen im EU-Binnenmarkt überprüfen, sowie geistiges Eigentum besser schützen. Nachhaltige und intelligente Mobilität soll gefördert und eine Allianz für sauberen Wasserstoff ins Leben gerufen werden. Außerdem schlägt die Kommission konkrete Schritte vor, wie bestehende Hindernisse im Binnenmarkt abgebaut werden können. „Damit Europas führende Rolle im Industriesektor gewahrt bleibt, wird die neue Industriestrategie dazu beitragen, drei Schlüsselprioritäten zu verwirklichen: die Erhaltung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und gleicher Wettbewerbsbedingungen in der EU und weltweit, ein klimaneutrales Europa bis 2050 und die Gestaltung der digitalen Zukunft Europas“, so die damaligen Ziele der Kommission.

Schwerpunkte der Anfang März vorgestellten Industriestrategie sind weiters umfassende Maßnahmen zur Modernisierung und Dekarbonisierung energieintensiver Industrien, die Unterstützung des Bereichs nachhaltige und intelligente Mobilität, Förderung der Energieeffizienz und Gewährleistung einer ausreichenden und konstanten Versorgung mit kohlenstoffarmer Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen. Eine Allianz für sauberen Wasserstoff soll die Dekarbonisierung der Industrie beschleunigen. Manche Maßnahmen geben bereits Ausblicke auf den Zusammenbruch internationaler Produktionsstrukturen und Wertschöpfungsketten, wie etwa die Stärkung der industriellen und strategischen Autonomie Europas durch die Sicherung der Versorgung mit kritischen Rohstoffen und Arzneimitteln, sowie die Entwicklung strategischer digitaler Infrastrukturen und die Unterstützung von Schlüsseltechnologien. Europa kann es sich nicht leisten, in wichtigen industriellen Zukunftsfeldern zu sehr abhängig zu sein.

WKÖ-Impulspapier fokussiert auf zentrale Themen der Industrie

Bereits im Februar hatte die WKÖ in einem Impulspapier die wichtigsten Schwerpunkte für die EU-Industriestrategie erarbeitet und eingebracht. Die Argumentation der WKÖ fokussiert auf Maßnahmen in vier Bereichen: Wettbewerbsfähigkeit, Energie und Kreislaufwirtschaft, Internationaler Handel, Innovation und digitale Transformation. Zielsetzung der WKÖ-Positionen ist es, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken und zugleich wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Ziele in Einklang zu bringen. Die WKÖ sieht wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für alle Unternehmensgrößen und Wertschöpfungsketten als Grundbaustein einer Industriestrategie in Europa. Eine starke industriepolitische Positionierung sichert Wachstum und Wohlstand und bietet die Basis für flankierende Maßnahmen auf nationaler Ebene durch eine Fortsetzung des Entlastungskurses und dem Fokus auf Investitions- und Innovationsanreize.

Gleichzeitig muss sie, gemeinsam mit einer neugewichteten Beihilfen- und Wettbewerbspolitik, Teil der Antwort Europas auf Abschottungstendenzen in anderen Teilen der Welt sein; in der Handelspolitik muss Europa geschlossen auftreten. Wichtige Schwerpunkte sind weiters die Weiterentwicklung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) und die verbesserte Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften. Die Pandemie zeigt auch, welchen hohen Stellenwert industrielle Autonomie und Versorgungssicherheit in kritischen Bereichen haben. Protektionistischen Tendenzen, die bereits vor Covid-19 sichtbar waren und aktuell noch verstärkt wurden, ist entschieden entgegenzutreten.

Green Deal und Industriestrategie verknüpfen – EU als wichtiger Impulsgeber

Die Digitalisierung, der Green Deal mit höchst ambitionierten Klimaschutzzielen sowie der härter werdende Wettbewerb mit den USA und China stellen die Unternehmen in Europa vor große Herausforderungen. Diese dürfen aber nicht nur auf den ökologischen und digitalen Wandel verengt werden: auch andere Megatrends, wie die Globalisierung, der demografische Wandel und zunehmende Sicherheitsrisiken müssen am industriepolitischen Radar bleiben. Darüber hinaus zeigt die aktuelle Krise in einzelnen Branchen die Gefahr von Abhängigkeiten und die Notwendigkeit verstärkter Diversifikation internationaler Lieferketten. Der Standort Europa muss daher durch Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Stärkung der industriellen Basis, verbunden mit innovationsfreundlichen Rahmenbedingungen, abgesichert werden.

Die massiven wirtschaftlichen Folgewirkungen der Covid-19-Pandemie haben nicht nur Rohstoff- und Produktionsketten beeinträchtigt und den Zugang zu Absatzmärkten erschwert, sie heben auch Ziele und Zeitpläne einzelner Vorhaben aus den Angeln – dies erfordert die Verschiebung von Prioritäten und die Rückreihung weniger wichtiger Teilstrategien. Umfangreichere Investitionen in Forschung und Technologieentwicklung sind notwendig - die Betriebe sind auf Lösungen zur Emissionsverringerung angewiesen, deren Einsatz wirtschaftlich darstellbar sein muss. Die EU muss durch kluge Anreize und technologieoffene Rahmenbedingungen zum Impulsgeber für eine erfolgreiche Energiewende und klimafreundlichere Wirtschaft werden. Die Rolle von Wettbewerb und Märkten darf dabei nicht geschwächt werden.

Schutz vor CO2-Verlagerung verstärken

Die BSI trägt das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 mit, steht aber einer einseitigen Verschärfung der 2030-Ziele kritisch gegenüber. Erhöhte Zielsetzungen müssen jedenfalls auch mit höherer Wettbewerbsfähigkeit und Perspektiven für nachhaltiges Wachstum in Einklang gebracht werden. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie die sich bei der Transformation ergebenden Herausforderungen von den Unternehmen zu bewerkstelligen sind, darf nicht ausbleiben, sondern muss direkt mit den betroffenen Sektoren geführt werden. Da das Klimaschutz-Ambitionsgefälle zu internationalen Wettbewerbern wächst, ist ein erweiterter Carbon Leakage-Schutz erforderlich. Zusätzliche technologieneutrale Maßnahmen und marktwirtschaftliche Anreize sind nötig, um die erforderlichen Investitionen und Innovationen für die Realisierung des “Green Deal” zu ermöglichen. Die Kommission sollte 2020 einen Maßnahmenplan vorlegen, wie europäische Unternehmen zukünftig effektiven Carbon Leakage-Schutz erhalten werden. Dazu zählt eine Anpassung des europäischen Beihilferechts, um internationale Kostendifferenzen adäquat zu adressieren.

Die in der Strategie herausgestellten CO2-Grenzausgleichsmaßnahmen können nach aktuellem Diskussionsstand die kostenfreie Zuteilung und die Strompreiskompensation gemäß EU ETS-Richtlinie nicht ersetzen. Die Liste der strompreiskompensationsberechtigten Unternehmen darf nicht von 14 auf acht Sektoren verkürzt werden. Die energie- und stromintensiven Unternehmen werden von der Umsetzung der im “Green Deal” avisierten Vorhaben ganz besonders betroffen sein. Es sollte daher im Gegenteil untersucht werden, ob der Kreis der berechtigten Sektoren nicht ausgeweitet werden muss, um in Zeiten zunehmender globaler Herausforderungen die Wertschöpfung in der EU effektiver zu unterstützen.

Importstrategie für Erneuerbare und Technologieoffenheit in der Finanzierung

Jenseits politischer Visionen und allgemeiner Ankündigungen fehlt ein kohärenter Umsetzungsplan mit einem umfassenden Maßnahmenpaket, um dem steigenden Bedarf an sicherer, sauberer und bezahlbarer Energie für klimaneutrale Produktionsprozesse zu begegnen und Produktionsverlagerungen in Drittstaaten mit geringeren Energiekosten zu vermeiden. Durch die Umstellung nimmt der Bedarf an grünem Strom- und Wasserstoff zu international wettbewerbsfähigen Preisen zu. Die anspruchsvollen EU-Ziele erfordern eine groß angelegte europäische Strategie zum Import erneuerbarer Energieträger und zum europaweiten Aufbau von Wasserstoffinfrastruktur. Im Hinblick auf weitere internationale Abhängigkeiten ist hier besondere Vorsicht geboten.

Gerade in der Phase der wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Krise darf die Re-Investitionstätigkeit von Unternehmen nicht durch Planungsunsicherheit und mangelnde Stabilität der Rahmenbedingungen gefährdet werden. Nach dem Motto „Get back on track“ müssen alle Maßnahmen und Instrumente primär darauf gerichtet sein, das Vertrauen in den Standort Europa rasch wiederherzustellen und einen Neustart der Wirtschaft zu unterstützen. Die Industrie muss für Investitionen in zukunftsfähige Technologien und Produktionsstrukturen breiten und unbürokratischen Zugang zu Finanzierungen haben - Wettbewerbsnachteile gegenüber Mitbewerbern in anderen Wirtschaftsräumen sind bestmöglich zu vermeiden. Vor dem Hintergrund des Finanzierungsbedarfs der Unternehmen nach der Covid-19-Krise ist die praxisnahe Ausgestaltung der Kriterien zur nachhaltigen Finanzierung von entscheidender Bedeutung. Zudem dürfen Unternehmen hinsichtlich der Informations- und Offenlegungspflichten nicht einseitig überfordert werden.

AutorInnen: 

DI Oliver Dworak
E-Mail: oliver.dworak@wko.at

Mag. Stefanie-Marie Rupprecht
E-Mail: stefanie-marie.rupprecht@wko.at

Mag. Sandra Lengauer
E-Mail: sandra.lengauer@wko.at

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