SPIK - Sozialpolitik informativ & kurz
Newsletter Abteilung Sozialpolitik und Gesundheit 31.5.2022
Lesedauer: 13 Minuten
Inhaltsübersicht
- WKO Fachkräfteerhebung 2022: Der Fachkräftemangel ist zu einem Arbeitskräftemangel geworden
- Warum so viele Lehrlinge fehlen und was man dagegen tun kann
- Adipositas macht krank und geht ins Geld
- 57. Wissenschaftliche Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
der Arbeitsmarkt bleibt das bestimmende sozialpolitische Thema: Inzwischen gibt es mehr offene Stellen als Arbeitslose. Der aktuelle Arbeitskräfteradar der Wirtschaftskammer zeigt, dass der Arbeitskräftemangel größer als je zuvor ist, wo er besteht und was sich die Unternehmen dagegen wünschen. Umso wichtiger sind ein leichterer Zugang zur Rot-Weiß-Rot-Karte und eine Arbeitsmarktreform, die Impulse für mehr Beschäftigung setzt.
Noch dramatischer ist die Lage am Lehrstellenmarkt, der die Fachkräfte der Zukunft ausbilden soll: Aktuell meldet das AMS fast doppelt so viele offene Lehrstellen wie Lehrstellensuchende. So viel zu den aktuellen Vorwürfen nachlassender Ausbildungsbereitschaft der Betriebe. Eine Studie zeigt Lösungen auf.
Langfristig weit folgenreicher als COVID ist die Fettleibigkeit in den wohlhabenden Ländern inkl. Österreich. Anlässlich des Adipositas-Tags stellen mehrere Studien die Kosten und Gegenmaßnahmen dar.
Zum Abschluss eine Nachlese zur erfolgreichen 57. Zeller Tagung.
Alles Gute!
Rolf Gleißner
WKO Fachkräfteerhebung 2022: Der Fachkräftemangel ist zu einem Arbeitskräftemangel geworden
Die jährlich vom ibw im Auftrag der WKO durchgeführte größte Unternehmensbefragung Österreichs zum Thema Fachkräfte bestätigt die Befürchtungen: Die Pandemie hat den Mangel quer durch alle Branchen verstärkt, inzwischen fehlt es nicht nur an Fach-, sondern generell an Arbeitskräften.
An der seit 2018 stattfindenden Umfrage haben auch dieses Jahr wieder rund 4.000 Betriebe teilgenommen und das Bild, das die Medien seit langem vermitteln, bestätigt. Rund 72,9% der Betriebe berichten, dass sie sehr stark oder eher stark vom Arbeitskräftemangel betroffen sind. Die Betroffenheit reicht dabei von der Produktion bis zur Dienstleistung.
Offene Stellen auf Rekordniveau
Die Entwicklung der offenen Stellen schreitet dabei ebenso rasant voran. Aktuell berichten 71% der Betriebe, dass sie offene Stellen anzubieten hätten. Das ist ein Plus von 12,4% gegenüber dem Jahr 2020. In konkreten Zahlen bedeutet dies aktuell ca. 272.000 offene Stellen in ganz Österreich, die nicht besetzt werden können. Der Zukunftsausblick der befragten Unternehmen sieht nicht viel besser aus: 82,7% gehen davon aus, dass der Arbeitskräftemangel in den kommenden 3 Jahren noch (stark) zunehmen wird.
In den Branchen, die sich nach der Pandemie rasch erholen (könnten), ist die Lage besonders dramatisch: In den Sparten Tourismus, Freizeitwirtschaft (76,5%) und Transport, Verkehr (70,7%) sehen die Betriebe die Entwicklungen am Arbeitsmarkt in den nächsten 3 Jahren am negativsten. Als die 4 wichtigsten Ursachen nennen die Betriebe dabei zu wenige fachlich geeignete Bewerber (58%), großen Fachkräftebedarf in der Region (56%), unzureichende Arbeitsmotivation der Bewerber (48%) und zu geringes Interesse an diesen Berufen (43%).
Die Folgen sind bereits jetzt gravierend: 87% bzw. 85% der Unternehmen melden, dass der Arbeitskräftemangel Firmenchefs, ihre Familienangehörigen und die bestehenden Mitarbeiter zusätzlich belastet. 61% melden Umsatzeinbußen, weil Aufträge abgelehnt und Leistungsangebote eingeschränkt werden.
Dringender Handlungsbedarf: Unternehmen fordern rasche Reformen
Als wichtigste Maßnahmen, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzutreten, fordern die Unternehmen mehr Beschäftigungsanreize für Arbeitslose (81,7%), eine stärkere Förderung der Lehre für Erwachsene (74,8%), finanzielle Förderung bei der Beschäftigung von Älteren und Langzeitarbeitslosen (70,6%), ein besseres Angebot an Kinderbetreuung (61,8%) sowie eine Vereinfachung der Beschäftigung von Arbeitskräften aus Nicht-EU-Staaten (56,3%).
Die anstehende Arbeitsmarktreform und die Reform der Rot-Weiß-Rot–Karte sind dabei erste Schritte in die richtige Richtung. Diese müssen rasch umgesetzt werden, denn die demografische Entwicklung zeigt immer mehr Wirkung. Doch es sind weitere Maßnahmen erforderlich. Letztlich müssen wir sämtliche Potenziale in Österreich (insb. Lehrlinge, Frauen, Ältere) und international (durch eine aktive Bewerbung des Lebens- und Arbeitsstandortes Österreich) heben, um den Wohlstand zu sichern.
von Georg Kirchmair, MA
Warum so viele Lehrlinge fehlen und was man dagegen tun kann
Die KMU Forschung Austria hat in einer heuer veröffentlichten Studie die Herausforderungen am Lehrstellenmarkt analysiert. Im Zentrum standen Interviews mit Experten aus der Praxis, die wertvolle Lösungsansätze gegen den akuten Lehrlingsmangel lieferten.
Herausforderung Nummer 1 ist die demografische Entwicklung und der damit einhergehende akute und in Zukunft noch stärkere Fachkräftemangel. Verschärft wird der Mangel noch durch den Trend zur Schule – 2010 waren 42% der 15-Jährigen Lehrlinge, 2020 nur mehr 37%. Technische Lehrberufe rückten in den letzten 10 Jahren in den Vordergrund: Unter den Top 10 Lehrberufen sind bei den Burschen acht technische Lehrberufe (die von mehr Lehrlingen gewählt werden als früher), bei den Mädchen aber nur ein technischer Lehrberuf (Metalltechnik, Anteil bei Mädchen 3,1%)
Nur jeder dritte Lehrling ist eine Frau, Tendenz sogar sinkend. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund sind unterrepräsentiert. Insgesamt werden Lehranfänger älter, die Lehre im zweiten Bildungsweg findet immer mehr Anklang.
Die Corona-Krise hat dem Lehrstellenmarkt geschadet
Corona hat die Trends am Lehrstellenmarkt verstärkt. Der Trend zur Schule wurde durch Corona und die in diesem Zusammenhang geschaffenen „Aufstiegsklauseln“ verschärft. Damit fehlte die wichtige Zielgruppe der Schulabbrecher am Lehrstellenmarkt. Weiters gingen viele Schnuppermöglichkeiten in den Betrieben verloren, ein weiterer Grund, weshalb die Jugendlichen eher in den Schulen blieben. Ein Teil der Jugendlichen ging gestärkt aus der Krise, andere haben Schwierigkeiten, ihre Tagesstruktur aufrechtzuerhalten/wiederzufinden.
Im Westen und in den großen Industriegebieten suchen Unternehmen besonders dringend nach Lehrlingen. Die regionale Mobilität ist dabei das größte Hindernis, denn die öffentlichen Verbindungen am Land sind beschränkt, die meisten Jugendlichen haben kein Moped.
Die Jugendlichen kennen die Leitbetriebe in ihren Regionen und bewerben sich dort, vergessen aber die kleinen Betriebe, die ebenfalls Lehrlinge suchen. Immer mehr HTLs wurden in letzter Zeit gebaut, die ebenfalls ihre Klassen füllen müssen und mit den Betrieben um die Jugendlichen wetteifern. Die Unternehmer wollen aber nicht „Konkurrenten der Schulen, sondern Partner sein.“
Lösungsvorschläge – ohne Betriebe geht’s nicht
Die Vorschläge der befragten Experten sind vielfältig: Als Knackpunkt wird der enge Kontakt zu den Unternehmen gesehen, vor allem braucht es Schnuppertage in den Betrieben. Die Jugendlichen haben keinen Überblick über die breite Palette an Ausbildungen. Vor allem in technischen Berufen sind die dort unterrepräsentierten Mädchen stärker anzusprechen. Ebenso Jugendliche mit Migrationshintergrund, denen oft das Wissen über die Lehrausbildung als Alternative zur Schule fehlt. Deshalb sollte die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Betrieben intensiviert werden etwa in Form von Schnupper-/Lehrlingstagen.
Besonders schwer haben es kleine Betriebe, die nicht im Fokus der Bewerber stehen und von diesen daher oft vergessen werden. Neben Speed- oder Video-Datings und den bewährten Schnuppertagen schlagen die Experten Talentepools vor, die mit überzähligen Bewerbern von Großbetrieben den Kleinbetrieben helfen, Lehrlinge zu finden.
Fazit: Aktuell fehlen fast 5.000 Lehrlinge, um alle sofort verfügbaren offenen Lehrstellen besetzen zu können. Diese Lücke ist im Vorjahresvergleich um fast 70% gestiegen. Ohne Lehrlinge fehlen die dringend notwendigen Fachkräfte von morgen. Die Studie zeigt, dass eine engere Kooperation mit der Wirtschaft dringend nötig ist.
AMS report 152 - Digitale Kompetenzen in der Praxis (ams-forschungsnetzwerk.at)
Adipositas macht krank und geht ins Geld
Am 21. Mai war europäischer Adipositas-Tag. Fettleibigkeit zählt zu den größten gesundheitspolitischen und -ökonomischen Herausforderungen der heutigen Zeit. Abgesehen von den gesundheitlichen Schäden ist Adipositas ein Risikofaktor für einen schweren Covid-19-Verlauf und kostet die Volkswirtschaft Milliarden.
Die Auswirkungen von Adipositas auf die physische, psychische und psychosoziale Gesundheit sind enorm. Adipositas erhöht das Risiko für zahlreiche Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ2, arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, Schlafapnoesyndrom oder Gallenblasenerkrankungen um das 2-3Fache. Als Folge dessen ist das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöht, ebenso erhöht ist das Risiko für Lebererkrankungen, Tumorerkrankungen und Depressionen.
Dadurch verursachen übergewichtige und adipöse Patientinnen und Patienten in Österreich für ärztliche Hilfe, Medikamente sowie in der Anzahl der Belegtage bei Krankenhausaufenthalten Mehrkosten zwischen 800 und 1400 Euro pro Jahr gegenüber Normalgewichtigen. Die Kosten für Betriebe aufgrund von Krankenständen belaufen sich auf 1.421 Euro für Übergewicht (Body Mass Index (BMI) über 25 kg/m²) und 3.079 Euro für Adipositas (BMI über 30 kg/m²) pro Person und Jahr. Weiters sind 36,4% oder 170.000 der Pflegegeld-Fälle auf Übergewicht bzw. Adipositas zurückzuführen. Mit 5.885 Euro an durchschnittlichen Ausgaben für Pflegegeld lässt sich eine Milliarde Euro an Pflegegeldausgaben darauf zurückführen. Dabei handelt es sich um Pflegefälle, die aufgrund ihrer Erkrankungen Rückschlüsse zu Übergewicht und Adipositas zulassen: Stoffwechselerkrankungen, Kardio-Erkrankungen, Muskel-Knochen-Sehnen-Gelenke-Erkrankungen. Dazu kommen Pensionszahlungen durch Berufsunfähigkeitspensionen aufgrund der Diagnose Übergewicht.
Jeder zweite Erwachsene und jedes dritte Kind in Österreich sind übergewichtig
Übergewicht betrifft in 34 von 36 OECD-Staaten ca. die Hälfte der Bevölkerung. Etwa 1 von 4 Personen ist adipös. In Österreich ist die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei der österreichischen Bevölkerung ab 15 Jahren bei 51 %, wobei sich diese mit rund 60% bei Männern und 43% bei Frauen deutlich zwischen den Geschlechtern unterscheidet. Davon gelten 15 % der Frauen und 18% der Männer ab 15 Jahren adipös (Österreichische Gesundheitsbefragung 2019). Schon jetzt sind 28% der Kinder zwischen 5 und 9 Jahren übergewichtig; bei den Jugendlichen zwischen 10 und 19 Jahren sind es 26%. Covid 19 hat das verstärkt: Kinder haben während des ersten Pandemiejahres im Schnitt 1,8 kg mehr zugenommen als im Jahr davor.
Die wirksamsten Behandlungsmöglichkeiten von Adipositas umfassen eine Adaptierung des Lebensstils, Steigerung der körperlichen Aktivität und Änderung der Ernährung von frühester Kindheit an. Bei schweren Formen oder bestehenden Folgeerkrankungen können sogenannte bariatrische Operationen oder Medikamente ebenso wie Rehabilitationsmaßnahmen eine Gewichtsabnahme unterstützen. Wesentlich bei der Vermeidung von Adipositas sind jedoch Prävention und Anreizsysteme. Seriöse Angebote bieten eine längerfristige Begleitung bei dem dabei wichtigen Prozess der Verhaltensänderung. Die ÖGK bietet jetzt schon für Kinder und Erwachsene Programme, die über mehrere Monate laufen und für die Versicherten im Wesentlichen kostenlos sind. Die Umsetzung erfolgt durch multiprofessionelle Teams aus den Disziplinen Gesundheitspsychologie, Sportwissenschaft und Diätologie/Ernährungswissenschaft. Angedacht könnte darüber hinaus eine Verlängerung des bewährten Mutter-Kind-Passes für Kinder werden, sowie eine Erweiterung um die Prüfung des BMI.
Insbesondere für ältere Menschen über 60 Jahre, die in Österreich 33 % der Bevölkerung ausmachen, wäre ein Präventionskonzept wie beispielsweise ein Best-Agers-Bonuspass von großem Vorteil. In Anlehnung an den Mutter-Kind-Pass bietet er den Vorteil einer niederschwelligen, nachhaltigen Unterstützung, die alle Aspekte der gesunden Lebensführung, von Bewegung und Ernährung bis zur Achtsamkeit, im täglichen Leben verankert. Dabei könnten Primärversorgungseinheiten mit angeschlossenen Pflegekompetenzzentren einbezogen werden.
Ein Euro, der in Maßnahmen zur Prävention investiert wird, generiert einen ökonomischen Rückfluss von sechs Euro. Eine Investition, die sich für die Menschen in Österreich unbedingt lohnt.
Zur Studie des Wiener Wirtschaftskreises, einer Denkfabrik der WKW
Daten Deutschland: https://www.kiggs-studie.de/deutsch/home.html
Daten Österreich: https://www.kinderjugendgesundheit.at/site/assets/files/1237/kinderliga_lagebericht_2021_webversion_klein.pdf
von Mag. Maria Cristina de Arteaga
57. Wissenschaftliche Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht
Nach einem von Covid geprägten Winter konnte nun die 57. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht endlich wieder im gewohnten Rahmen stattfinden.
Prof. Reinhard Resch (Universität Linz) machte mit seinem Vortrag „ArbeitnehmerInnenschutzrecht: Fürsorgepflicht und Mitwirkungspflichten der ArbeitnehmerInnen“ den Anfang. Im Mittelpunkt der Präsentation stand der in Art 5 und 13 der RL 89/391/EWG sowie in § 15 ASchG zum Ausdruck kommende Grundsatz, dass zwar die Hauptverantwortung für die Umsetzung des Arbeitnehmerschutzes bei den einzelnen AG liege, AN aber stets eine „mittragende Figur“ seien und in diesem Zusammenhang selbst Träger von Rechtspflichten werden. Ziel des Referenten war es nun, die dogmatischen Grundlagen dieser Konstruktion zu beleuchten. Dabei wurde die Treuepflicht als alleiniger Anknüpfungspunkt verneint. Vielmehr sei jede Nebenpflicht entweder auf eine gesetzliche Anordnung oder eine vertragliche Vereinbarung zurückzuführen, deren Inhalt allenfalls durch ergänzende Vertragsauslegung nach den §§ 914 f ABGB zu ermitteln sei. Eine abschließende Auflistung aller Nebenpflichten sei aber generell nicht möglich, man müsse sie stets anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls bestimmen. Besonders zu berücksichtigen sei hier die genaue Tätigkeit, zu der sich ein AN verpflichtet hat.
Im zweiten Vortrag widmete sich Prof. Olaf Deinert (Universität Göttingen) dem Thema „Die europäische Säule sozialer Rechte: Rechtsnatur und Implikationen für das nationale Arbeitsrecht“. Im Anschluss an eine historische Einordnung wurde insbesondere der Frage nachgegangen, welche Wirkungen denn die auf das Jahr 2015 zurückgehende Säule sozialer Rechte entfalte. Im Laufe der Präsentation zeigte sich, dass es sich hierbei „nur“ um ein politisches Programm handle. Die Säule soll demnach als Ausgangspunkt für eine weiterführende Umsetzung sozialer Rechte durch die EU einerseits und die Mitgliedsstaaten andererseits dienen. Auch wenn die Säule somit keine rechtliche Bindungswirkung besitze und insbesondere nicht als Grundrechtskatalog zu qualifizieren sei, so sei sie dem Referenten zufolge dennoch nicht vollkommen bedeutungslos. Sie könne nämlich als Auslegungshilfe sowohl für Unionsrecht als auch unter Umständen für nationales Recht herangezogen werden. Außerdem sei sie ein wichtiger Maßstab dafür, in welche Richtung sich die EU und die Mitgliedsstaaten in den kommenden Jahren entwickeln sollen. Abschließend beschäftigte sich der Vortrag mit möglichen praktischen Anwendungsfällen der Säule sozialer Rechte.
Ass.-Prof. Erika Kovács (Wirtschaftsuniversität Wien) referierte im dritten und letzten Vortrag zum Thema „Whistleblowing“. Zunächst widmete sie sich dabei dem schwer zu fassenden – persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Whistleblower-Richtlinie (EU) 2019/1937. Dieser ist prinzipiell nur bei Verstößen bestimmter Bereiche des Unionsrechts eröffnet, die zusätzlich noch von einem im Anhang der RL aufgelisteten Sekundärrechtsakt erfasst sein müssen. Anschließend beschäftigte sich die Referentin mit betriebsverfassungs- und individualarbeitsrechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Umsetzung der RL und nahm dabei speziell auf den (zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten) ministeriellen Arbeitsentwurf des Umsetzungsgesetzes Bezug. Bei der Einführung eines internen Meldesystems solle es stets auf dessen konkrete Ausgestaltung ankommen. Vor allem ein internes Meldesystem, welches bloß die Mindestanforderungen der Whistleblower-RL umsetzt, sei nicht zustimmungspflichtig iSv Art 96 Abs 1 Z 3 ArbVG, da das Interesse der AG an Kontrolle aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung überwiege. Abgesehen davon wurde auch explizit das Recht der AN angesprochen, allfällige Verstöße des AG zu melden. Dabei sei immer auf die Treuepflicht, die AN zur Wahrung der unternehmerischen Interessen seines AG verpflichtet, Bedacht zu nehmen. AN stehe nämlich aufgrund dieser Treuepflicht bei Whistleblowing nur dann ein Schutz zu, wenn sie an die Richtigkeit ihres Hinweises glauben. Personen, die wissentlich falsche oder irreführende Informationen weitergegeben, sollen folglich nicht geschützt sein. Für den wohl nicht seltenen Fall der Fahrlässigkeit enthalten aber weder RL noch Umsetzungsentwurf Regelungen.
Das Seminar wurde in diesem Jahr von Johannes Warter (Universität Salzburg) zum Thema „Der Arbeitszeitbegriff im Unionsrecht und im nationalen Recht“ abgehalten.
Der letzte Veranstaltungstag wurde vom Präsidenten der Gesellschaft Prof. Rudolf Mosler zum Thema „Steuerung im Gesundheitswesen durch Vertragspartnerrecht“ eröffnet. Zunächst wurde die durchaus schwierige Ausgangslage dargestellt, die insbesondere auf die zersplitterte Kompetenzverteilung sowie die damit einhergehende unterschiedliche Finanzierung zurückzuführen sei. Im Anschluss daran schilderte der Referent eines der Hautprobleme in diesem Zusammenhang, nämlich die Frage nach der Verbindlichkeit des Österreichischen Strukturplans Gesundheit (ÖSG) und der regionalen Strukturpläne Gesundheit (RSG). Seit 2017 werden die von der Zielsteuerungskommission im Vorhinein gekennzeichneten Abschnitte von einer ausschließlich zu diesem Zweck errichteten GesundheitsplanungsGmbH zur Verordnung erklärt. Während diese höchst fragwürdige Konstruktion derzeit vom VfGH geprüft wird, bereite die Verbindlichkeit des im ÖSG enthalten Großgeräteplans – mit Verweis auf die Regelung in § 338 Abs 2a ASVG – weniger Probleme. Drittes Hauptthema des Vortrags war die Stellenplanung und damit zusammenhängende Problemstellungen. Besonders im Fokus stand dabei das komplexe Verhältnis zwischen Gesundheitsplanung und gesamtvertraglicher Stellenplanung. Eine unmittelbare Bindung an ÖSG und RSG sei zu verneinen, jedoch haben beide laut dem Referenten eine hohe Autorität, sodass etwa – entgegen der Auffassung des VwGH – ein älterer Stellenplan keinen Vorrang gegenüber ÖSG und RSG habe.
Im letzten Vortrag referierte Prof. Michaela Windisch-Graetz (Universität Wien) zur Thematik „Grenzüberschreitendes mobiles Arbeiten und Sozialversicherung“. Dabei wurde zunächst ein Überblick über die Grundprinzipien des einschlägigen Kollisionsrechts geboten. Im weiteren Verlauf wurde auf konkrete Fragestellungen bei mobilen AN eingegangen. Die Möglichkeit rein internetbasiert, vom Home-Office aus zu arbeiten, bringe das Problem mit sich, dass jene Sozialrechtsordnung anwendbar sei, in dem sich der AN gerade physisch aufhalte. AG würden sich daher bei der Gewährung von Home-Office ungewollt mit einer Vielzahl ausländischer Rechtsordnungen konfrontiert sehen. Die zur Verhinderung dieses Problems aufgekommene These, wonach die virtuellen Räume, in denen die AN agieren, in dem Staat gedacht werden, in dem das beschäftigende Unternehmen seinen Sitz hat, wurde aber von Windisch-Graetz verneint, da es dem Regelungsziel der VO (EG) 883/2004 widersprechen würde. Anschließend legte sie den Fokus auf Art 13 der VO (EG) 883/2004 und befasste sich mit der Frage, wann ein AN gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedsstaaten eine Beschäftigung ausübt. Verbringen AN mehr als 25% im Home-Office, unterliegen sie nicht mehr den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats, sondern des Wohnmitgliedstaats. Schließlich erläuterte die Referentin die Frequenz, also wie häufig oder wie selten AN Grenzen überschreiten müssen, damit es zur Anwendbarkeit des Art 13 kommt.
Im Nachwuchsforum referierte Julia Heindl (Universität Wien) zu „Kollisionsrechtlichen Aspekten der Entsendung von hochmobilen ArbeitnehmerInnen“, Felicia Kain (Wirtschaftsuniversität Wien) zur „Anwendung der Prioritäts- und Antikumulierungsregeln des Art 68 VO 883/2004 auf Familiensachleistungen“ und Magdalena Mißbichler (Universität Salzburg) zur „Rechtswidrigkeit betriebsrätlichen Handelns“.
Folgende Verlage haben die Tagung tatkräftig unterstützt: Manz-Verlag, ÖGB-Verlag, Linde Verlag, Verlag LexisNexis und Facultas Verlag.
Die nächste Zeller Tagung wird von 29. bis 31.3. 2023 stattfinden.
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