EU-Flagge im Wind wehend, im Hintergrund Windräder unter blauem Himmel
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Sparte Industrie

Die Zukunft der Europäischen Industriepolitik

EVP, S&D und Renew haben sich auf die neue Kommission geeinigt, die ab 1. Dezember 2024 tätig ist. Details zum Clean Industrial Deal bleiben offen.

Lesedauer: 4 Minuten

02.12.2024

Am Abend des 20. November 2024 haben sich EVP, S&D und Renew auf höchster politischer Ebene auf die neue Kommission geeinigt, jetzt steht dem Arbeitsbeginn am 1. Dezember nichts mehr entgegen. Alle Vize-Präsident:innen und der ungarische designierte Kommissar Olivér Várhelyi, welche noch nicht vorab bestätigt wurden, standen auf der Kippe. Besonders umstritten war die Wahl von Raffaele Fitto (EKR) zum Exekutiv-Vizepräsidenten für Kohäsion & Reform, Olivér Várhelyi (Patriots for Europe), Kommissar für Gesundheit & Tierwohl, und Teresa Ribera (S&D), die Exekutiv-Vizepräsidentin für Saubere, gerechte und kompetitive Transformation für ihre Rolle in der spanischen Flutkatastrophe in Valencia.  

Inmitten geopolitischer Herausforderungen und Unsicherheiten steht die Europäische Kommission vor einer entscheidenden Phase in der Gestaltung der europäischen Industriepolitik. Umso wesentlicher ist es, dass die Personalvorschläge von Ursula von der Leyen nun Zustimmung im Parlament gefunden haben, um politischen Stillstand zu vermeiden. Mit dem Clean Industrial Deal soll die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie gestärkt und gleichzeitig die Klimaziele der EU durchgesetzt werden. Wie diese Wettbewerbsorientierung der europäischen Industriepolitik konkret aussehen soll, bleibt jedoch weiterhin offen.

Ein gemeinschaftlicher Kraftakt  

Das Ziel des Clean Industrial Deal ist es, heißt es aus diversen Kreisen, die europäische Industrie auf eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Zukunft vorzubereiten. Dies umfasst Maßnahmen zur Förderung von Innovationen, zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) und zur Sicherstellung einer fairen Wettbewerbsumgebung. Es sei notwendig, die Industriepolitik an den Klimazielen der EU auszurichten. Umweltfreundlichkeit, Erhaltung und Ausbau der globalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie sollen Hand in Hand gehen. Dies bedeutet, die Widerstandsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken und die Abhängigkeit von kritischen Rohstoffen zu verringern. Eines muss allen Beteiligten klar sein: ohne industrielle Basis werden die Klimaziele nicht erreicht werden. 

Der Clean Industrial Deal ist ein Kooperationsprojekt innerhalb der neu gewählten Kommission. Stéphane Séjourné, der französische Exekutiv-Vizepräsident für Wohlstand und industrielle Strategie, ist für die Implementierung federführend. Die Koordination übernimmt jedoch Teresa Ribera, denn die relevanten Player unterstehen ihr: der Kommissar für Energie und Wohnbau, Dan Jørgensen, der Kommissar für Klima, Netto-Null Emissionen und sauberes Wachstum, Woepke Hoekstra, und die Kommissarin Jessika Roswall, Kommissarin für Umwelt, Wassersicherheit und wettbewerbsfähige Kreislaufwirtschaft. In allen Hearings sowie Mission Letters wurden sie von Ursula von der Leyen dazu aufgerufen, gemeinsam mit Stéphane Séjourné am Clean Industrial Deal zu arbeiten. Wie diese Kooperation aussehen wird, ist bis jetzt völlig offen. Das Machtgefüge aus Kompetenzverteilung, Neuzugängen und relativer Stärke der einzelnen Kommissar:innen sieht jedenfalls nach einem ‚Top-Down‘-Zugang aus, bei dem die finalen, strategischen Entscheidungen in den Händen von Kommissionspräsidentin von der Leyen und ihrem Kabinett bleiben. 

Außer Zweifel steht, dass der Clean Industrial Deal gemeinsam mit einem Action Plan on Affordable Energy Prices, für den Dan Jørgensen hauptverantwortlich ist, innerhalb der ersten 100 Tage veröffentlicht werden soll. 

Herausforderungen, Chancen und der Wirtschaftsstandort Europa

Während seines Hearings vor dem Europäischen Parlament hob Stéphane Séjourné mehrere Herausforderungen hervor, denen sich die europäische Industriepolitik stellen muss. Eine der größten Herausforderungen sei die Dekarbonisierung der Industrie. Dies erfordere erhebliche Investitionen in neue Technologien und Infrastrukturen. Dazu gehören unter anderem Wasserstofftechnologien, erneuerbare Energien und digitale Lösungen. Gleichzeitig muss die EU sicherstellen, dass diese Transformation sozial gerecht verläuft und keine Regionen oder Bevölkerungsgruppen zurücklässt. Für all das hat Mario Draghi in seinem kürzliche veröffentlichten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der Industrie rund 800 Mrd. Euro jährliches Finanzierungsvolumen veranschlagt – zwar eine grobe Schätzung, doch ohne Zweifel Vorgeschmack auf die immense Herausforderung. 

Die Industrie müsse intern und extern integriert werden, dafür werde man das Silodenken aufbrechen und den Dialog mit Unternehmen und Sozialpartnern suchen. Sektoren in wirtschaftlichen Schwierigkeiten müsse man mit Investitionen unterstützen, um auch hier Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Mechanismen zum Schutz der Sektoren für Planbarkeit und Investitionssicherheit sollen ermöglicht und notwendige Dekarbonisierungsprojekte lanciert werden. In diesem Zusammenhang wird auch der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) angesprochen, der ausgeweitet und vereinfacht werden soll, um ein level-playing-field zu ermöglichen.  

Fazit

Neben dem Wunsch nach einem besseren Dialog und Austausch mit relevanten Stakeholdern wurde in allen Anhörungen betont, dass ein stärkerer Fokus auf die Implementierung vom Green Deal und Fit-for-55 Paket gelegt werden sollte. Inwieweit die von der Kommission angekündigte Reduzierung der Berichtspflichten um 25 % in diese Ankündigungen einfließen wird, bleibt abzuwarten. Mit dem Net-Zero-Industry-Act (NZIA) wurden bereits erste Initiativen zur Förderung von Schlüsseltechnologien im europäischen Industriesektor gesetzt, die in den Clean Industrial Deal einfließen sollen, um europäischen Produkten in strategischen Sektoren Vorrang zu geben und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. 

Anfang des Jahres übernimmt Polen für sechs Monate die Ratspräsidentschaft und wird aller Voraussicht nach auch einen starken Fokus auf den Bürokratieabbau legen, um die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu steigern. Ein zentrales Anliegen soll die Thematisierung der hohen Energiepreise im Vergleich zu den USA und China sein. Außerdem soll sich das Thema der Verteidigungspolitik unter der Berücksichtigung der aktuellen geopolitischen Entwicklungen und wirtschaftlichen Herausforderungen im Ratspräsidentschaftsprogramm wiederfinden.  

Die Umsetzung des Clean Industrial Deals wird eine enge Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten erfordern. Inwieweit sich die angekündigten speziellen Förderprogramme für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), mehr Flexibilität und schnellere Genehmigungsverfahren im Clean Industrial Deal widerspiegeln werden, bleibt abzuwarten. Immerhin hat die Europäische Kommission in den letzten fünf Jahren erkannt, dass ohne einen starken Industriestandort Europa die Klimaziele nicht erreicht, und damit auch unser Wohlstand nicht erhalten werden kann. Diese Erkenntnis muss auch auf nationaler Ebene in den standortpolitischen Maßnahmen der neuen Regierung Einzug halten. Die BSI wird auf allen Ebenen darauf pochen. 

Autoren:
Felicia Ranner, MSc
Clemens Rosenmayr, MSc, MSc 

E-Mail:
Felicia.ranner@eu.austria.be
Clemens.rosenmayr@wko.at

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