Sparte Industrie

Europa: Die Mitte hält, aber neue Koalitionen werden kommen

Die Europawahlen sind geschlagen. Gesamt betrachtet blieb der erwartete massive Rechtsruck aus. Änderungen wird es dennoch geben

Lesedauer: 2 Minuten

24.06.2024

Mit der Auszählung der letzten Stimmen in Irland, rund eine Woche nach dem Wahltermin am 9. Juni 2024, ist die Wahl zum Europäischen Parlament abgeschlossen. Gleich im Anschluss haben die Parteienfamilien mit der Fraktionsbildung sowie mit der Zuteilung zu Ausschüssen und mit Deals rund um Vorsitze und andere einflussreiche Posten begonnen. Die folgenden Schlüsse können bereits gezogen werden.

„Die Mitte hält“ titeln wohl nicht zu Unrecht einige europäischen Medien. Der massive Rechtsruck, den viele Beobachter im Vorfeld erwartet hatten, ist im Großen und Ganzen ausgeblieben. Die Europäische Volkspartei, die Sozialdemokratie sowie die Liberalen kommen weiterhin auf eine Mehrheit im nun 720 Abgeordnete fassenden Parlament. Dennoch wird der Rechtsruck in den beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich deutliche Spuren im Rat hinterlassen, gehen doch die dortigen Regierungen sehr geschwächt aus den Wahlen hervor. Deswegen und auch internen Verschiebungen innerhalb der Fraktionen geschuldet – so sind die traditionell weit links stehenden spanischen Sozialisten die zweitstärkste Delegation der sozialdemokratischen Fraktion – steht die nach dem guten Abschneiden der EVP erwartbare Wahl von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin weiterhin auf Messers Schneide. Der nicht vorhandene Fraktionszwang führt dazu, dass sie nun wieder auf Stimmen entweder von grüner oder von rechtskonservativer Seite angewiesen sein wird, um die Mehrheit im Plenum sicherzustellen.

Das „Fischen“ im stark angewachsenen Teich der bisher nicht zugeordneten Abgeordneten steht ebenfalls hoch auf der Tagesordnung der Parteien. Die bestehenden Fraktionen werden ihr Möglichstes versuchen, diesen Abgeordnetenkreis für sich zu gewinnen. Das Abschneiden in diesem Rennen kann in der zukünftigen Koalitionsbildung noch eine wichtige Rolle spielen. So ist bereits jetzt ersichtlich, dass eine Mehrheit links der Mitte nicht mehr möglich sein wird. Eine solche war in den Plenarabstimmungen rund um das Renaturierungsgesetz und das EU-Lieferkettengesetz das Zünglein an der Waage. „Keine Mehrheit ohne EVP mehr“ könnte daher ein weiterer Titel lauten.

Zu guter Letzt ist die Bildung einer neuen Rechtsaußenfraktion weiterhin fraglich. Der Ausschluss der AfD aus der Fraktion ID (Identity & Democracy) kurz vor der Wahl zeigt die große Zerbrechlichkeit und Widersprüchlichkeit einer europäischen Fraktion der Nationalisten. Während die FPÖ der AfD weiterhin die Nibelungentreue hält, ist der wiedererstarkte Rassemblement National aus Frankreich auf Abstand gegangen und liebäugelt eher mit einer Koalition mit Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, bisher im Lager der Rechtskonservativen EKR. Meloni scheint zwischen ihrer Rolle als Königsmacherin für von der Leyen und einer möglichen Anführerin einer Rechtsaußenfraktion im Europaparlament hin- und hergerissen. Mit „Realpolitik vs. Prinzipientreue“ ließe sich dieses Dilemma weit rechts der Mitte treffend betiteln.

Der Zeitplan bis zu den neuen EU-Institutionen ist auf jeden Fall bereits vorgezeichnet. In der Woche vom 15. Juli 2024 wird sich das neue Parlament konstituieren. Nach der Nominierung des/der neuen Kommissionspräsident/in durch den Europäischen Rat, frühestens am 27. - 28. Juni, muss diese/r vom Parlament gewählt werden. Wenn das bereits im Juli geschieht, startet die Nominierung der Kommissar/innen durch die Mitgliedstaaten. Diese müssen sich im Anschluss, voraussichtlich im Zeitraum September-Oktober, noch dem Hearing im Parlament stellen. Das gesamte Kommissars-Kolleg muss dann ebenfalls vom Parlament bestätigt werden. Das ist Ende des Jahres zu erwarten.

Industriepolitisch sind durch diese Gegebenheiten leichte Änderungen zu erwarten. Im Bereich Green Deal könnte etwas zurückgeschalten werden, während die Wettbewerbsagenda an Bedeutung gewinnen könnte. Das wird jedoch von der Koalitionsbildung des/der Kandidat/in für die Kommissionspräsidentschaft abhängen. Geschwächte Grüne werden ihre Stimmen so teuer wie möglich verkaufen. Ähnliches gilt für die Rechtskonservativen, von denen eine wirtschaftsfreundlichere Ausrichtung zu erwarten ist – Populisten sind jedoch bekanntermaßen nur bedingt vorhersehbar. Die BSI wird sich mit Fragen an Abgeordnete in die Hearings der Kommissionskandidat/innen einbringen und weiterhin aktuelle Informationen liefern.

Autor:

Clemens Rosenmayr
E-Mail: clemens.rosenmayr@wko.at

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