Sparte Industrie

EU-Klimapaket „Fit for 55“: BSI bestätigt kritische Positionen

Die Bundessparte Industrie (BSI) bleibt bei ihrer kritischen Bewertung und fordert die Verdrängung der energieintensiven Industrie aus Europa zu verhindern.

Lesedauer: 9 Minuten

11.03.2023

Das "Fit for 55"-Gesetzespaket, mit dem die Europäische Kommission eine Senkung des Treibhausgasausstoßes um mindestens 55 Prozent bis 2030 erreichen möchte, wurde am 14. Juli 2021 veröffentlicht und betrifft die Industrie auf breiter Front. Es enthält Entwürfe für zwölf Gesetzgebungsverfahren, die der Umsetzung der Ziele des „European Green Deal“ dienen. Sie sollen in den kommenden Monaten und Jahren parallel verhandelt und verabschiedet werden. Dieses ambitionierte Programm für den umwelt- und klimafreundlichen Umbau der europäischen Wirtschaft, das die damals neue EU-Kommission 2019 entwickelt hatte, wird auch vom Europäischen Parlament und Rat mitgetragen.

Über das Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent hinaus wird die Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 angestrebt. Konkret bedeutet das: in knapp drei Jahrzehnten dürfen in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen nur noch minimale Restemissionen anfallen, die dann bilanziell neutralisiert werden sollen („net zero“). Die Ziele des neuen Pakets gehen weit über das „Clean Energy for Europe“- Paket hinaus, das erst 2019 abgeschlossen wurde.

Sorge um internationale Wettbewerbsfähigkeit

Zentrale Vorhaben im "Fit for 55"-Paket sind – neben der Aufteilung des -55%-Ziels auf die Mitgliedsstaaten im Rahmen der Lastenteilungs-Verordnung (Effort Sharing) - die Umgestaltung des europäischen Emissionshandels einschließlich des neuen Instruments eines CO2-Grenzausgleichs (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) zur Vermeidung von Carbon Leakage, die Überarbeitung der Energieeffizienz- und der Erneuerbaren-Richtlinie, eine Verschärfung der CO2-Flottengrenzwerte für PKW und leichte Nutzfahrzeuge, sowie ein Vorschlag zur stärkeren Harmonisierung der Energiesteuern.

Unterstützen die neuen Ziele einige Bereiche der Industrie, wie die Elektro-, Anlagenbau- und Zulieferindustrie, die Schaffung neuer Märkte und die Beschleunigung ihrer Innovationskraft, so bedeuten sie für energieintensive Branchen raschere und stärkere Fortschritte am Weg in Richtung Klimaneutralität. Für alle Unternehmen relevant sind steigende CO2- Preise und damit ein deutlich höherer Druck, Energieverbräuche zu senken, erneuerbare Energieträger stärker zu nutzen und emissionsarme Prozesse zu entwickeln und zu implementieren.

Bereits zwei Tage nach Veröffentlichung gab die BSI im Rahmen eines Pressegesprächs mit Spitzenfunktionären der Industrie eine erste, tendenziell sorgenvolle und in Details kritische Erstbewertung des Pakets ab – insbesondere im Hinblick auf den Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und die in vielen Teilbereichen fehlende Technologieoffenheit. Diese erste Einschätzung wurde nun in den detaillierten Stellungnahmen zu den einzelnen Dossiers weitgehend bestätigt. Der Anteil der energieintensiven Industrien liegt in Österreich etwa doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. Noch ist der wirtschaftlich sinnvolle Einsatz vieler Technologien – etwa Wasserstoff oder Carbon Capture and Utilization (CCU) - Zukunftsmusik. Die Unternehmen müssen aber während der gesamten Transformation wettbewerbsfähig bleiben. Es muss also jetzt alles getan werden, um trotz Verschärfung der Ziele die Verdrängung der Industrie zu verhindern. Dazu ist ein konstruktiver Diskurs mit den betroffenen Branchen erforderlich, der Raum für alle Technologien lässt, und in der die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit nicht mit einem Schulterzucken als Nebenthema abgetan wird.

Reform des Europäischen Emissionshandels

Der europäische Emissionshandel (EU ETS) soll nach dem Vorschlag der Kommission umfangreich reformiert werden: das Ausgangsniveau der Gratis-Emissionszertifikate soll einmalig abgesenkt werden (One-off), der Lineare Reduktionsfaktor zur weiteren Verminderung soll von derzeit 2,2 auf 4,2 Prozent pro Jahr erhöht werden. Zudem soll eine höhere Entnahme von Zertifikaten aus der Marktstabilitätsreserve ermöglicht werden. Für Unternehmen mit großen, am EU ETS beteiligten Industrieanlagen ist die teilweise freie Zuteilung von Zertifikaten Voraussetzung dafür, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte gewahrt bleibt. Der Kommissionsvorschlag sieht allerdings vor, die freie Zuteilung weiter einzukürzen, indem die maximale Abwertung der Benchmarks von 1,6 auf 2,5 Prozent pro Jahr angehoben wird. Zusätzlich soll als Gegenleistung für die freie Zuteilung eine Verpflichtung zu Klimaschutzinvestitionen im Konnex mit den Energieaudits auf Basis der Energieeffizienz-Richtlinie eingeführt werden. In weiterer Folge soll die freie Zuteilung für CBAM-Sektoren ab 2026 schrittweise reduziert werden und ab 2035 Null betragen. In Kombination mit der Steigerung der CO2-Preise führen diese Maßnahmen zu deutlich höheren Belastungen der Unternehmen.

Weiters ist geplant, den Anwendungsbereich des EU ETS auf den Seeverkehr auszuweiten, und ein neues System des Emissionshandels für die Sektoren Gebäude und Verkehr einzuführen. Damit sollen ab 2026 die Emissionen des Energieeinsatzes in Gebäuden und Verkehr bepreist werden. Wie bereits im deutschen nationalen Emissionshandel nach dem Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) sollen die Inverkehrbringer von Kraft- und Brennstoffen zur Teilnahme verpflichtet werden. Diese geben dann den CO2-Preis im Rahmen ihrer Möglichkeiten an ihre Kunden weiter. Ausgenommen sollen Brennstoffverbräuche für die Erzeugung industrieller Prozesswärme sein. Eine freie Zuteilung beziehungsweise Entlastung besonders betroffener Energieverbraucher ist nicht vorgesehen; die Versteigerungserlöse sollen für Investitionen in den Klimaschutz und zur Unterstützung ärmerer Haushalte eingesetzt werden.

Neues Instrument CO2-Grenzausgleich

Für einzelne energie- und handelsintensiver Sektoren, nämlich Stahl, Aluminium, Zement, Düngemittel und Elektrizität, soll ein CO2-Grenzausgleich (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) etabliert werden. Damit sollen Wettbewerbsnachteile durch EU-weit steigende CO2-Preise gegenüber Konkurrenten außerhalb der Europäischen Union vermieden und die Abwanderung von Wertschöpfung verhindert werden.

Der von der EU-Kommission geplante CBAM ist eine Art CO2-Zoll auf Produkte, die aus Drittstaaten importiert werden. Unter die Regelung fallen auch Produkte der ersten Weiterverarbeitungsstufen, zum Beispiel Stahlrohre. Die jeweils beim Import fällige CO2-Abgabe errechnet sich aus dem bei der Produktion ausgestoßenem Kohlendioxid und dem aktuellen CO2-Preis im EU-ETS. Sie kann reduziert werden oder entfällt, wenn der Importeur nachweist, dass bereits im Herkunftsland dafür eine CO2-Abgabe entrichtet wurde. Die Kommission schlägt vor, dass der CO2-Grenzausgleich die teilweise freie Zuteilung von Emissionszertifikaten für die erfassten Sektoren ersetzt.

Den Vorschlag der Kommission begleitet eine intensive Diskussion, wie und ob sich ein Grenzausgleichsmechanismus in Einklang mit dem internationalen Handelsrecht bringen lässt und wie die bei der Produktion in Drittländern anfallenden Emissionen berechnet und nachgewiesen werden können. Für Diskussionen wird auch sorgen, dass der Vorschlag der Kommission nur einen Aufschlag für Import, nicht aber eine Entlastung für Exportprodukte vorsieht. Die BSI hat dazu bereits entsprechende Änderungsvorschläge ausgearbeitet und unterstützt die Forderungen nach Beibehaltung der benchmarkbasierten freien Zuteilung.

Änderung der Erneuerbare Energien-Richtlinie

Damit die mit dem European Green Deal beabsichtigte Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann, müssen CO2-arme Energieformen, also insbesondere Strom aus erneuerbaren Quellen und klimafreundlicher Wasserstoff, in ausreichenden Mengen und zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stehen. Dafür plant die EU-Kommission die Erhöhung des aktuellen Ausbauziels 2030 von derzeit 32 auf 40 Prozent, berechnet als Anteil am Endenergieverbrauch. Nationale Ziele sollen nicht vorgeschrieben werden. Vorgesehen sind aber indikative sektorspezifische Erneuerbaren-Ziele für die Bereiche Industrie (plus 1,1 Prozent pro Jahr) und Gebäude. Im Bereich Verkehr soll neben dem Unterziel für fortschrittliche Kraftstoffe auch ein Ziel für erneuerbare Treibstoffe nicht biogenen Ursprungs (RFNBO) eingeführt werden, etwa für Strom, Wasserstoff oder E-Fuels. Vorgeschlagen wird zudem ein EU-weit gültiges System für Herkunftsnachweise, das dazu beitragen soll, dass im EU-Strombinnenmarkt mehr Verträge für die Direktabnahme von erneuerbarem Strom (PPA) geschlossen werden. Weiters sind auch die Klassifizierung erneuerbarer Gase und stärkere Anreize für grenzüberschreitende EE-Projekt vorgesehen.

Änderung der Energieeffizienz-Richtlinie

Das derzeit noch gültige Energieeinsparziel von 32,5 Prozent bis 2030 gegenüber 2008 wird nach Einschätzung der Kommission voraussichtlich um rund 3 Prozent verfehlt. Nachsteuerungsbedarf bestehe daher auch ohne Verschärfung. Ob die Effizienzziele erhöht werden sollen, ist noch offen – vorgeschlagen werden minus 36 Prozent, bzw. minus 9 Prozent gegenüber dem Referenzszenario 2020. Die jährliche Einsparverpflichtung im Rahmen des Verpflichtungssystems soll von 0,8 auf 1,5 Prozent erhöht werden. Die Kommission schlägt vor, das Prinzip "Efficiency First" - also den sparsamen Umgang mit Energie - in allen relevanten Segmenten zu stärken. Einen besonderen Beitrag soll dabei die öffentliche Hand leisten, unter anderem über Sanierungsverpflichtungen für öffentliche Gebäude und eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten in der öffentlichen Beschaffung (green public procurement). Mehr als bisher wird ein stärkeres Gewicht auf die energetische Sanierung von Bestandsgebäuden gelegt. Die Kriterien für die Verpflichtung zu Energie-Audits und Energie-Managementsystemen sollen nicht mehr an Art und Größe des Unternehmens festgemacht werden, sondern an der Höhe des Energieverbrauchs.

CO2-Flottengrenzwerte und Ladeinfrastruktur

Im Verkehrssektor plant die EU-Kommission eine Anpassung der CO2-Flottengrenzwerte für Pkw und den Ausbau der Ladeinfrastruktur. Damit soll die Marktdurchdringung mit Elektrofahrzeugen erheblich beschleunigt werden. Bisher sah die Verordnung für die CO2-Flottengrenzwerte von PKW bis 2030 eine Verringerung der Emissionen um 37,5 Prozent bei neuen Pkw gegenüber 2021 vor. Die nun vorgeschlagenen 55 Prozent Reduktion gegenüber 2021 auf dann rund 50 Gramm CO2 je Kilometer und Pkw sind aber nur ein Zwischenschritt. Bereits 2035 sollen neu zugelassene PKW und leichte Nutzfahrzeuge komplett emissionsfrei sein. Das bedeutet quasi das Ende für Neuwagen mit Verbrennungsmotoren. Auch dazu hat sich die BSI im Rahmen ihrer Stellungnahme kritisch geäußert.

Darüber hinaus schlägt die EU-Kommission im Rahmen der neuen Gesetzgebung zur Infrastruktur für alternative Kraftstoffe deutlich konkretere Ausbaupläne für Ladesäulen sowie für Wasserstoff- und Gastankstellen vor. Die bestehende Richtlinie soll in eine direkt gültige Verordnung umgewandelt werden. Der Schwerpunkt wird klar auf Strom und Wasserstoff gelegt - auch für Nutzfahrzeuge –, das Prinzip der Technologieneutralität wird viel zu wenig berücksichtigt. Jeder Mitgliedstaat soll eine bestimmte Netzabdeckung bei der Lade- beziehungsweise Tankinfrastruktur erreichen. Die Kraftstoffe Erdgas (CNG, LNG) und Flüssiggas (LPG) werden nur noch übergangsweise beim Infrastrukturausbau berücksichtigt. Nicht zuletzt werden Minimalausstattungen für See- und Binnenhäfen bei der Landstromversorgung sowie an Flughäfen für die stationäre Bordstromversorgung vorgeschrieben.

Überarbeitung der LULUCF-VO

Die Bereiche der Landnutzung und Forstwirtschaft sollen stärker als bisher als CO2-Senke wirken. Grund dafür ist, dass ein Teil der ausgestoßenen Treibhausgase – Prozessemissionen aus der Industrie bzw. Emissionen aus der Landwirtschaft - unvermeidbar bleibt. Damit Europa aber „unter dem Strich“, also bilanziell, spätestens 2050 keine Treibhausgase mehr emittiert, wird die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre erforderlich sein. Dazu sollen nicht nur, wie bisher, Emissionen aus Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF) im gleichen Sektor vollständig bilanziell ausgeglichen werden, sondern vielmehr eine CO2-Senke entstehen - ein Ökosystem, das Kohlendioxid dauerhaft speichert. Ziel des Änderungsvorschlags ist eine Netto-Treibhausgasentnahme im LULUCF-Sektor von 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten im Jahr 2030. Ergänzt wird dieses Dossier um eine Waldstrategie.

Vorschläge der Kommission jetzt am Prüfstand

Erste Diskussionen der einzelnen Dossiers im Europäischen Parlament und in den Ratsarbeitsgruppen zeigen, wie unterschiedlich die nationalen und parteipolitischen Standpunkte sind – auch vor dem Hintergrund der im Sommer deutlich sichtbaren Auswirkungen des Klimawandels. So gehen im Parlament etwa den Grünen die Vorschläge zu wenig weit, sie treten – scheinbar ohne Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit - für noch strengere Ziele und eine sofortige Abschaffung der freien Zuteilung im ETS ein. Beim neuen ETS-System für Gebäude und Verkehr steht die Sorge um die Weitergabe der CO2-Kosten an Haushalte an oberster Stelle der Bedenken. Breit werden derzeit die rasant steigenden Energiepreise für Strom und Gas adressiert - die Kommission hat hier kürzlich eine Toolbox zugesagt, mit der die Mitgliedsstaaten gegen diese Kosten vorgehen können. So werden Auswirkungen bekämpft, deren Ursachen aber weiter verschärft. Dramatisch werden voraussichtlich auch die Folgen der neuen Regelungsflut auf die Transportkosten sein – verfügbare Alternativen und gleiche Wettbewerbsbedingungen insbesondere am internationalen Luft- und Schifffahrtsmarkt sind auch hier dringend notwendig, um Nachteile für europäische Unternehmen zu vermeiden.

 

Autor:

DI Oliver Dworak

E-Mail:

oliver.dworak@wko.at

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