Sparte Industrie

Wasserstoff: Neue EU-Strategie beschreibt stufenweisen Ausbaupfad

Der Markthochlauf von Wasserstoff ist zur Erreichung der Klimaneutralität unverzichtbar. Brüssel zeigt sich dabei offen für verschiedene Herstellungstechnologien.

Lesedauer: 8 Minuten

11.03.2023

Ohne Wasserstoff sind die ambitionierten Ziele des EU Green Deals nicht erreichbar. Er kann als Einsatzstoff, Brennstoff und Energiespeicher genutzt und in der Industrie, im Verkehr, im Energie- und Gebäudesektor eingesetzt werden. Am 8. Juli veröffentliche die Europäische Kommission daher nicht nur ihre Strategie zur Integration des Energiesystems, sondern – aufgrund der Schlüsselrolle, die Wasserstoff am Weg zu einem stärker vernetzten Energiesektor und einer treibhausgasneutralen Wirtschaft zukommt - eine eigenständige EU-Wasserstoffstrategie („A hydrogen strategy for a climate-neutral Europe“). Damit legt die EK im Einklang mit dem Aufbaupaket „Next Generation EU“ eine neue Investitionsagenda für CO2-arme Energie vor.

Die BSI hatte im Vorfeld zu beiden Dossiers umfangreichen Input abgegeben und begrüßt grundsätzlich, dass das Thema Wasserstoff vorangetrieben wird. Neben energie- und klimapolitischen Effekten müssen aber auch wirtschaftliche Fragen mitbedacht werden. Der Markthochlauf muss möglichst kosteneffizient erfolgen, um Unternehmen bei der Umstellung ihrer Produktionsprozesse bestmöglich zu unterstützen. Zudem bietet Wasserstoff den Technologieanbietern und Herstellern von Maschinen und Anlagen die Chance, neue Geschäftsfelder zu erschließen und ihre Weltmarktposition auszubauen.

Breiter Anwendungsbereich

Wasserstoff kann zur Dekarbonisierung von industriellen Verfahren und Wirtschaftszweigen beitragen, in denen die Verringerung von CO2-Emissionen dringend erforderlich, aber schwer zu erreichen ist. Bisher wird Wasserstoff in der EU allerdings nur sehr begrenzt eingesetzt und weitgehend aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Ziel der neuen Strategie ist es daher, die Wasserstofferzeugung zu dekarbonisieren – dies erscheint aufgrund des raschen Rückgangs der Kosten erneuerbarer Energien und der Beschleunigung der technologischen Entwicklung realistisch. Bevorzugt soll Wasserstoff insbesondere in Sektoren, in denen es keine oder nur sehr teure technologischen Alternativen gibt, zum Einsatz kommen. Das sind insbesondere die Industrie und der Schwerlastverkehr. Als CO2-armer bzw. -freier Energieträger würde Wasserstoff auch den Transport erneuerbarer Energie über große Entfernungen und die Speicherung großer Energiemengen ermöglichen.

In der Industrie bestehen Anwendungsmöglichkeiten darin, in Raffinerien, bei der Ammoniakherstellung und bei neuen Formen der Methanolherstellung die Menge des derzeit eingesetzten fossilen Wasserstoffs zu verringern oder diesen zu ersetzen. In der Stahlherstellung könnten fossile Einsatzstoffe substituiert werden; Wasserstoff hat laut EU-Strategie das Potenzial, die Grundlage für die in der neuen EU-Industriestrategie angesprochene CO2-freie Stahlerzeugung zu bilden. Im Verkehrssektor ist Wasserstoff eine Option für Anwendungen, in denen die Elektrifizierung schwierig ist, wie für Busse im öffentlichen Nahverkehr, für gewerbliche Flotten oder für Teile des Schienennetzes.  Auch schwere Nutzfahrzeuge, einschließlich Reisebussen, Spezialfahrzeuge und Fahrzeuge für den Straßengüterfernverkehr, könnten durch Einsatz von Wasserstoff als Kraftstoff dekarbonisiert werden. Langfristig könnte Wasserstoff als Ausgangsstoff für die Herstellung von flüssigem synthetischem Kerosin und anderen synthetischen Kraftstoffen auch zu einer Option für die Dekarbonisierung des Luft- und Seeverkehrs werden.

Herkunftsbezogene Definitionen

Die neue EU-Strategie definiert Wasserstoff nach seiner Herkunft und dem damit verbundenen Produktionsprozess. Diese Erzeugungsverfahren verursachen, je nach Technologie und Energiequelle, unterschiedliche Emissionen und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Materialanforderungen und Kosten. Folgende Begriffe werden verwendet:

  • Strombasierter Wasserstoff (unabhängig von der Energiequelle, aus der der Strom stammt)
  • Erneuerbarer Wasserstoff (erzeugt mit Strom aus erneuerbaren Quellen)
  • Sauberer Wasserstoff (gleichbedeutend mit erneuerbarem Wasserstoff)
  • Fossiler Wasserstoff (aus fossilen Brennstoffen, insb. der Reformierung von Erdgas und Vergasung von Kohle)
  • Fossiler Wasserstoff mit CO2-Abscheidung (dabei werden die entstehenden Treibhausgase abgeschieden)
  • CO2-armer Wasserstoff (fossiler Wasserstoff mit CO2-Abscheidung und strombasierter Wasserstoff)
  • aus Wasserstoff gewonnene synthetische Brennstoffe (unterschiedliche gasförmige und flüssige Brennstoffe auf der Grundlage von erneuerbarem Wasserstoff und Kohlenstoff, zB synthetisches Kerosin für den Luftverkehr, synthetischer Diesel für Kraftfahrzeuge, verschiedene Moleküle zur Herstellung von Chemikalien und Düngemitteln).

Im Mittelpunkt der EU-Strategie steht erneuerbarer Wasserstoff, da er über das größte Dekarbonisierungspotenzial verfügt und mit dem Ziel der Klimaneutralität am ehesten vereinbar ist. Dennoch erkennt die Kommission erfreulicherweise an, dass in einer Übergangsphase auch andere Verfahren zur Herstellung von Wasserstoff, beispielsweise aus Erdgas mit CO2-Abscheidung und –speicherung, oder auf Basis von CO2-armem Strom, dazu beitragen, die Erzeugung von Wasserstoff emissionsärmer zu machen und den Markt zu vergrößern.

Derzeit sind weder erneuerbarer Wasserstoff noch fossiler Wasserstoff mit CO2-Abscheidung gegenüber fossilem Wasserstoff wettbewerbsfähig. Allerdings haben sich gemäß EU-Strategie die Kosten für Elektrolyseure in den letzten zehn Jahren um rund 60% verringert und werden sich im Vergleich zu heute bis 2030 voraussichtlich halbieren Deshalb werden bis 2030 Elektrolyseanlagen in Gebieten, in denen erneuerbarer Strom billig ist, voraussichtlich mit fossilem Wasserstoff konkurrieren können. Förderungen, Benchmarks und Zertifizierungen sollen unterstützende politische Rahmenbedingungen ermöglichen.

Stufenweiser Ausbaupfad

Die EU-Strategie sieht die schrittweise Entwicklung einer sauberen Wasserstoffwirtschaft in drei Phasen vor, die in den verschiedenen Industriezweigen unterschiedlich schnell verlaufen soll:

  • In der ersten Ausbauphase 2020-2024 liegt das Ziel darin, die bereits bestehende Wasserstofferzeugung, z.B. in der chemischen Industrie, zu dekarbonisieren und darüber hinaus die Nutzung von Wasserstoff für neue Anwendungen zu fördern. Dafür sollen in der EU Elektrolyseanlagen mit einer Leistung von mindestens 6 Gigawatt installiert und bis zu 1 Million Tonnen erneuerbarer Wasserstoff erzeugt werden (zum Vergleich: die derzeitige Elektrolyseleistung in der EU beträgt etwa 1 Gigawatt).
  • In der zweiten Phase 2024-2030 soll Wasserstoff zu einem wesentlichen Bestandteil eines integrierten Energiesystems werden, seine Nutzung soll allmählich auf neue Sektoren wie die Stahlerzeugung, Lastkraftwagen, den Schienenverkehr und Anwendungen im Seeverkehr ausgedehnt werden. Dafür soll in der EU bis 2030 eine Elektrolyseleistung in Höhe von mindestens 40 Gigawatt installiert und damit bis zu 10 Millionen Tonnen erneuerbarer Wasserstoff erzeugt werden – weiterhin hauptsächlich in lokalem Verbund in der Nähe der Nutzer oder von erneuerbaren Energiequellen.
  • In der dritten Phase 2030-2050 sollten die Technologien für erneuerbaren Wasserstoff ausgereift sein und in großem Maßstab eingesetzt werden können, sodass alle Sektoren erreicht werden, in denen die Dekarbonisierung schwierig ist und alternative Lösungen nicht oder nur mit höheren Kosten umsetzbar sind.

Investitionen, Finanzierung, Wachstum, Arbeitsplätze

Geht es nach der neuen EU-Strategie, werden Investitionen in erneuerbaren und CO2-armen Wasserstoff ein Wachstumsmotor sein – gerade auch im Zuge der wirtschaftlichen Erholung von der COVID-19-Krise. Dies wurde auch im Aufbauplan der EU-Kommission „Next Generation EU“ herausgestrichen. Darüber hinaus ist Europa bei der Herstellung von Technologien zur Erzeugung von sauberem Wasserstoff wettbewerbsfähig und könnte von der weltweiten Entwicklung zur Etablierung von Wasserstoff als Energieträger profitieren. Die kumulierten Investitionen in erneuerbaren Wasserstoff in Europa könnten sich laut EU-Strategie bis 2050 auf 180 bis 470 Milliarden Euro belaufen, für CO2-armen fossilen Wasserstoff zusätzlich 3 bis 18 Milliarden Euro. Die Entstehung einer Wasserstoff-Wertschöpfungskette für die Industrie und andere Anwendungen könnte, in Verbindung mit einer Führungsrolle der EU bei Technologien im Bereich erneuerbarer Energie, direkt und indirekt zu rund 1 Million Arbeitsplätzen führen. Schätzungen von Analysten zufolge könnten rund 14% der weltweiten Energienachfrage bis 2050 mit sauberem Wasserstoff gedeckt werden, was einem Jahresumsatz von rund 630 Milliarden Euro entspräche.

Die EU-Wasserstoffstrategie umreißt eine Investitionsagenda, die neben Investitionen für Elektrolyseure auch Mittel für die notwendigen Kapazitäten von erneuerbarem Strom, den Transport und die Speicherung, die Nachrüstung der bestehenden Gasinfrastruktur sowie CO2-Abscheidung und –speicherung umfasst. Um diese Investitionen und das Entstehen eines umfassenden Wasserstoff-Ökosystems zu unterstützen, bringt die Kommission gleichzeitig die in der neuen EU-Industriestrategie angekündigte „Europäische Allianz für sauberen Wasserstoff“ auf den Weg. Sie soll Experten aus der Industrie, aus nationalen und regionalen Behörden und der Zivilgesellschaft umfassen und entscheidend zur Umsetzung der Strategie und zur Förderung von Investitionen beitragen. So sollen wirtschaftlich tragfähige Investitionsprojekte ermittelt und zur Umsetzung vorbereitet werden.

Zu deren Finanzierung sollen verschiedene Instrumente eingesetzt werden, insbesondere

  • das Strategische Forum für wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse (IPCEI),
  • Kapazitäten des Programms InvestEU, die durch das neue Aufbauinstrument Next Generation EU mehr als verdoppelt werden sollen,
  • Mittel des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und des Kohäsionsfonds, die im Rahmen der Initiative REACT-EU aufgestockt werden, sowie Mittel des Mechanismus für einen gerechten Übergang (Just Transition Fund),
  • Mittel aus den Fazilitäten Connecting Europe im Energie- und im Verkehrssektor,
  • Mittel des EU ETS-Innovationsfonds, sowie
  • Mittel aus EU-Sonderfinanzierungen, zB im Rahmen von InnovFin und InvestEU.

Internationale Kooperation und Infrastruktur

Ziel der neuen Strategie ist es, die Führungsrolle der EU im Bereich Forschung und Innovation durch Sicherstellung einer vollständigen Lieferkette für die europäische Wirtschaft zu unterstützen. Dazu soll auch die Weiterentwicklung der internationalen Wasserstoffagenda der EU beitragen, insbesondere die enge Zusammenarbeit mit östlichen und südlichen Nachbar- bzw. Partnerländern. Die EU will hier neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit in Bezug auf sauberen Wasserstoff fördern, da die Herstellungskosten in sonnen- und windreichen Ländern meist deutlich geringer sind. Die Entwicklung spezieller Forschungsprogramme und Investitionspläne in mehreren Ländern wird langfristig zur Etablierung eines internationalen Wasserstoffmarktes mit gemeinsamen Normen beitragen.

Für den EU-weiten Wasserstoffausbau ist eine leistungsstarke Infrastruktur eine wichtige Voraussetzung. In der Anfangsphase wird der Wasserstoffbedarf laut Strategiepapier weitgehend durch standortnahe Erzeugung gedeckt werden, z.B. in Industrieclustern oder bei der Wasserstofferzeugung für Tankstellen. Für die weiteren Entwicklungsschritte sind dann zusätzlich lokale Netze und weitreichende Transportmöglichkeiten in Pipelines erforderlich. Hier muss auch die Umrüstung der bestehenden Gasinfrastruktur mit einbezogen werden. Im Hinblick auf die geplanten Energiepartnerschaften mit anderen Staaten zum Import von Wasserstoff, sowie auch der geplanten Nutzung und Speicherung von CO2, kommt dem forcierten Auf- und Ausbau der Infrastruktur erhöhte Bedeutung zu.

Konzeptpapier zur Nationalen Wasserstoffstrategie

Bereits im Juni lege das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) ein erstes Konzeptpapier als Überleitung zwischen den im Herbst 2019 fertiggestellten Endberichten der fünf Arbeitsgruppen und der geplanten Nationalen Wasserstoffstrategie vor. Die WKÖ hat dazu eine Stellungnahme mit umfassendem BSI-Input abgegeben. Hauptpunkte darin sind, neben einer grundsätzlichen Befürwortung des Papiers und des Zieles, Österreich zur Wasserstoffnation 1 zu machen:

  • Wirtschaftlichkeit und Markthochlauf (insb. Kosteneffizienz, klare Rolle der Akteure im Strom- und Gasbereich, Diskussion des gesetzlichen Rahmens),
  • Mengengerüste und Erzeugung (insb. Ziel 2025: 200 MW, Ziel 2030: 1-2 GW Elektrolysekapazität und damit verbundene Investitionen, internationale Kooperationen zur Schließung der Versorgungslücke, EU-Importstrategie, Technologieoffenheit, Notwendigkeit alternative Erzeugungsformen)
  • Verteilung, Speicher und Sektorintegration (insb. Infrastruktur, Beimischungsgrad, technische Machbarkeit für Anwender, Verwertung von CO2 / CCU)
  • Wasserstoffnutzung im Endverbrauch (insb. Einsatzbereiche, Marktnachfrage, Versorgungssicherheit, Wettbewerbs- und Wachstumsperspektiven, Normung)
  • Anreize, Finanzierung und Förderung (insb. Anpassung in Abgabesystemen, Budgetvorsorge, Adaptierung des EU-Beihilfenrechts)
  • Internationale Kooperation (insb. Kosten, Standards, Herkunftsnachweise, Exportchancen)
  • Forschung und Entwicklung (insb. Budgets, Förderprogramme, Reallabore).

Autor:

DI Oliver Dworak
E-Mail: oliver.dworak@wko.at

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