Bergthaler (l.) und Leitl.
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Regelungsdschungel und Sanktionsspirale, Verantwortliche stehen vor großen Haftungsrisiken

Entbürokratisierung ist immer öfter Thema von Gesprächen mit Wirtschaftsakteuren. Eine „Regelungsinflation“ unter Androhung von zum Teil immer höheren Strafen fordert Wirtschaftsbetrieben immer größere Aufmerksamkeit ab.

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Aktualisiert am 20.11.2023

„Steigende Regulierung in allen Bereichen und immer höhere Strafen verhindern unternehmerische Dynamik. Zusätzlicher Druck wird auch über die Schnelllebigkeit des derzeitigen Informationszeitalters erzeugt, da negative Meldungen über einen Betrieb, unabhängig ob diese richtig sind oder nicht, schaden können. Der Regelungsdschungel und die damit in Gang gesetzte Sanktionsspirale verursachen für die Verantwortlichen in Unternehmen immer größere Haftungsrisiken. Denn in der überwiegenden Zahl an Fällen haben sie den Beweis zu erbringen, dass sie an der Nichteinhaltung einer Vorschrift kein Verschulden trifft. Dies im Gegensatz zur vielzitierten Unschuldsvermutung im Bereich des gerichtlichen Strafrechts. Darüber hinaus gibt es für Betriebe weder eine gesetzliche noch behördliche oder gerichtliche Orientierungshilfe, die ihnen hilft, wie sie sich in einer Situation verhalten sollen, in der es unmöglich war, eine Verwaltungsvorschrift einzuhalten, ohne dass sie dafür verantwortlich sind. In diesem Sinne ist auch die langjährige Forderung der Wirtschaftskammer ,Beraten satt strafen‘ aktuell“, sagt Stefan Leitl, Vorsitzender der Strategiegruppe „Betrieb und Umwelt“ der Sparte Industrie in der WKOÖ.

Checkliste unterstützt Unternehmen in ihrem Alltag

Die Interessensvertreter der Wirtschaft sind in der Pflicht, Unternehmen bei der Einhaltung der Auflagen und Gesetze zu unterstützen. Deshalb hat die Sparte Industrie der WKOÖ gemeinsam mit Vertretern von Wissenschaft und Praxis unter Berücksichtigung der betrieblichen Realität für Unternehmen eine Handlungsempfehlung samt Checkliste entwickelt, die Unternehmen bei der Implementierung oder Verbesserung ihres internen Kontrollsystems (IKS) unterstützen sollen. Diese Orientierungshilfe soll die vielfach herrschende Rechtsunsicherheit lindern. Stefan Leitl hat das Thema innerhalb der Strategiegruppe vorangetrieben und selbst einen „Stresstest“ in seinem Unternehmen hinter sich. Juristisch geführt wurde das Projekt von Wilhelm Bergthaler, Dekan der Juristischen Fakultät sowie Partner der Kanzlei Haslinger/Nagele und seinen beiden Kanzleikollegen Thomas Riesz und Thomas Baumgartner.

„Mit diesem Projekt wurden auf Basis langjähriger Spruchpraxis der Gerichte Ansätze ausgearbeitet und für die unternehmerische Praxis Instrumente entwickelt, wie rechtssichere Kontrollsysteme eingerichtet und im Verwaltungsstrafverfahren nachgewiesen werden können“, so Leitl. Mangels expliziter gesetzlicher Vorgaben und konkreter Aussagen in der Judikatur sollen die erarbeiteten Handlungsempfehlungen samt Checkliste den Unternehmen eine Orientierungshilfe bieten und einen Beitrag zur Reduzierung der Rechtsunsicherheit im Verwaltungsstrafrecht bieten. Die dokumentierte Befolgung der dort angesprochenen Punkte soll in weiterer Folge als Beweis in Verwaltungsstrafverfahren verwendet werden können und dient in Zeiten von Personalmangel zudem für eine zeitliche Entlastung der Mitarbeiter. Darüber hinaus wird das Ziel verfolgt, die Checkliste als „Best Practice“ einer haftungsfesten Organisation in der (ober-)österreichischen Verwaltungspraxis zu verfestigen.

IKS stellt Einhaltung der Verwaltungsvorschriften sicher

Ein IKS ist eine Reihe von Verfahren, Prozessen, Richtlinien und Praktiken, die von einer Organisation implementiert werden, um die Einhaltung der sie treffenden Verwaltungsvorschriften sicherzustellen, ihre Vermögenswerte zu schützen und ihre Reputation zu gewährleisten. Ein IKS besteht dabei aus entsprechenden Informationen und Instruktionen an die Dienstnehmer über die jeweils einzuhaltenden Vorschriften, aus der Kontrolle hinsichtlich der Einhaltung dieser, aus einem Sanktionssystem bei Zuwiderhandlungen sowie aus einer diese Punkte umspannenden ausreichenden Dokumentation. Beispiele hierfür sind regelmäßige Sicherheitsunterweisungen, systematische Kontrollen in technischer und organisatorischer Form (z.B. Schlösser, Zugangskontrollen, Sicherheitsbegehungen durch Führungskräfte), jederzeit vorlegbare geordnete Aufzeichnungen uvm.

„Solche Systeme und Abläufe sind für jede Organisation, unabhängig von ihrer Größe wichtig, da sie einen strukturierten Ansatz zum Risikomanagement bieten und die Effizienz und Effektivität der Abläufe verbessern. Auch KMUs sollten sich daher mit diesem Thema ausreichend auseinandersetzen“, empfiehlt Leitl.

Die Verantwortliche müssen nahezu perfektes Kontrollsystem nachweisen

„Vielfach herrscht der Ansatz, dass ein Unfall vorhergesehen hätte werden können, also muss es einen Schuldigen geben, und dieser ist der Verantwortliche im Unternehmen oder ein von diesem bestellter Beauftragter. Ein Verschulden liegt nur dann nicht vor, wenn der Verantwortliche nachweist, dass er in seinem Unternehmen ein wirksames Kontrollsystem eingerichtet und geführt hat, das durch externe Prüfung oder durch interne Überwachung regelmäßig kontrolliert und evaluiert wird. Eine Folge dieser Strafpraxis resultiert in einem übersteigerten Maß an Anforderungen an die Verantwortlichen, die nahezu jegliche in Betracht kommende Situation voraussehen und antizipativ hierfür Maßnahmen treffen müssen“, sagt Wilhelm Bergthaler, Dekan der Juristischen Fakultät und Partner bei Haslinger/Nagele.

„Wie bereits erwähnt, gilt im Verwaltungsstrafverfahren vielfach keine Unschuldsvermutung. Strafbare Fahrlässigkeit bei den meisten Verwaltungsdelikten ist bereits dann anzunehmen, wenn der Täter nicht glaubhaft macht, dass ihn an der Verletzung der Verwaltungsvorschrift kein Verschulden trifft. Die Verantwortlichen oder die jeweiligen Beauftragten haben also den Beweis zu erbringen, dass ihnen die Einhaltung der betreffenden Verwaltungsvorschrift nicht möglich gewesen ist. Dies setzt allerdings voraus, dass die Verantwortlichen ein nahezu perfektes Kontrollsystem im Unternehmen nachweisen müssen“, so Bergthaler.

In einem Fall bestätigte der VwGH ein Kontrollsystem

Die Wirksamkeit eines internen Kontrollsystems wurde in der Rechtsprechung in der Vergangenheit praktisch nie anerkannt. Dass es aber dennoch möglich ist, die Gerichte von der Wirksamkeit eines solchen Systems zu überzeugen, zeigt eine neuere Entscheidung des VwGH hinsichtlich Einhaltung von Jugendschutzbestimmungen beim Verkauf von Alkohol an einer Tankstelle. Dort bestätigte das Höchstgericht die von der Vorinstanz getroffene Beurteilung, dass die im Unternehmen getroffenen Maßnahmen ausreichend waren. So wurden die Mitarbeiter des Unternehmens regelmäßig sowohl durch den Verantwortlichen selbst als auch durch ein externes Unternehmen im Hinblick auf das tatgegenständliche Verhalten geschult, es wurden darüber Aufzeichnungen angefertigt und an den Verkaufsregalen Hinweisschilder angebracht und das Unternehmen verfügt über ein Kassensystem, das bei jedem Verkauf von Alkohol über das Verkaufsverbot informiert. Gemeinsam mit der bisherigen Verlässlichkeit der Mitarbeiter und der Androhung von Sanktionen bei Missachtung der Jugendschutzbestimmungen im Dienstvertrag wurde damit ein ausreichendes System nachgewiesen.

Kein „Persilschein“ durch Qualitätsmanagementsysteme

„Wichtig ist zu bedenken, dass die von Unternehmen in der Praxis häufig in Anspruch genommenen Zertifizierungen nicht automatisch ein wirksames Kontrollsystem nachweisen. Qualitätsmanagementsysteme, wie die ISO oder auch KTQ, verleihen in Verwaltungsstrafverfahren damit keinen ,Persilschein‘, selbst wenn sie entsprechend kosten- und personalintensiv sind oder spezialisiert auf bestimmte Bereiche, wie den Arbeitnehmerschutz ausgestellt werden. So muss jedenfalls nachgewiesen werden, dass eine solche Zertifizierung kontinuierlicher angewendet und überprüft wird und auch zur Verhinderung von entsprechenden Übertretungen geeignet ist“, beschreibt Bergthaler.

Es sind aber auch schon bereits erste positive Änderungen in der Rechtsprechung gelungen. So sind individuelle Bedienfehler nicht mehr zwingend als Organisationsverschulden des verantwortlichen Beauftragten einzustufen. Ebenso können kleine Formalfehler, wie ein leicht verspätetes Anmelden von Mitarbeitern bei der Sozialversicherung, die selbst behoben werden, mit einer Ermahnung gelöst werden.

Projekt „Checkliste und Stresstest für ein effektives IKS in der Praxis“

Um das strategische Ziel der Akzeptanz der „Checkliste und Handlungsempfehlungen für die Implementierung und Verbesserung von internen Kontrollsystemen“ zu erhöhen, fand ein wissenschaftlicher Austausch mit der Johannes Kepler Universität Linz statt. Um die Praxistauglichkeit der Anforderungen zu verifizieren, wurden Betriebe unterschiedlicher Größe und daher unterschiedlicher Umsetzungsstände von Kontrollsystemen ausgewählt und einem Stresstest unterzogen. Über den Sommer wurde die Checkliste in seiner Rohfassung erarbeitet und im Herbst der Strategiegruppe vorgestellt. Die Checkliste besteht inhaltlich aus zwölf Seiten. Im ersten Teil wird dem Anwender zunächst eine Übersicht zum rechtlichen Hintergrund und zum allgemeinen Aufbau eines effektiven IKS gegeben. Dabei wird insbesondere auf die vier in der Praxis relevanten Teilbereiche eines effektiven IKS eingegangen: Information/Instruktion, Kontrolle, Sanktionen und Dokumentation. Im Anschluss werden auch die haftenden Personen im Unternehmen hervorgehoben, sodass diese, als Adressaten, die Notwendigkeit erkennen. Zudem wird erörtert, welche Elemente ein effektives Compliance Management System insgesamt umfassen sollte. Der zweite Teil umfasst die eigentliche Checkliste mit Handlungsempfehlungen, untergliedert in unterschiedliche rechtliche und thematische Schwerpunkte. Mit Hilfe dieser Orientierungshilfe können die Unternehmen kritisch hinterfragen, ob ihre bestehenden Strukturen ausreichend sind bzw. welche zielgerichteten Maßnahmen für den Aufbau eines effektiven IKS gesetzt werden sollten.

Darüber hinaus bietet die Sparte Industrie in der WKOÖ in Kooperation mit der Rechtsanwaltskanzlei Haslinger/Nagele neben der Checkliste, die eine erste Orientierung liefert, für interessierte Unternehmen auch die Durchführung eines praxisnahen „Stresstestes“ vor Ort in den Betrieben an. Der Stresstest findet unter Einbindung aller relevanter Unternehmensfunktionen statt und soll den Betrieben dabei helfen, besser einzuschätzen, ob sie ein effektives und rechtssicheres IKS umgesetzt haben und liefert zudem Input für mögliche Verbesserungs- und Weiterentwicklungsmaßnahmen hinsichtlich bereits bestehender Strukturen.

„Interne Kontrollsysteme werden auch künftig ein großes Thema für Betriebe sein. Nicht nur, weil es auch in Zukunft keine gesetzliche oder gerichtliche Handlungsanleitungen hierfür geben wird, sondern weil mitunter auch durch die Gesetzgebung die Komplexität der rechtlichen Anforderungen an die Betriebe steigt. So sollen Betriebe durch die Aufarbeitung und kostenlose Zurverfügungstellung der Checkliste und Handlungsempfehlungen auf die unterschiedlichen Fragestellungen sensibilisiert werden. Keinesfalls kann sie, auch nach enger Umsetzung im Betrieb, als ,Freifahrtschein‘ zu Entlastung in Verwaltungsstrafverfahren herangezogen werden. Jedoch kann die dokumentierte Auseinandersetzung als Entlastungsbeweis in einem Verwaltungsstrafverfahren dienen“, erklärt Bergthaler.