Sparte Industrie

Gas-Paradoxon: Anspannung in der Industrie trotz voller Speicher

Informationen der Bundessparte Industrie

Lesedauer: 3 Minuten

11.03.2023

Zu Beginn der Wintersaison haben hohe Speicherfüllstände und mildes Wetter die Gasnachfrage entlastet und die Preise gedrückt. Trotz reduzierter russischer Lieferungen wird Österreich voraussichtlich gut über den Winter kommen. Die Versorgungssicherheit steht aber vor neuen Herausforderungen, wenn im nächsten Jahr die Speicher leer werden und Chinas Gasbedarf wieder steigt.

Nach der russischen Invasion in der Ukraine Ende Februar 2022 und der schrittweisen Reduktion der Gasexporte des Aggressors in die EU im Frühjahr überstiegen die Erdgas-Börsenpreise im Sommer in Europa 300 Euro/MWh, was mehr als dem Zehnfachen des Durchschnittspreises der letzten Jahre entspricht und rund 250 Prozent höher war als zu Jahresbeginn. In der Folge führten rekordhohe Speicherstände aufgrund neuer regulatorischer Vorgaben der Europäischen Kommission und konsequenter Gaseinkäufe der EU-Staaten, in Kombination mit ungewöhnlich mildem Herbstwetter und einer unerwartet starken LNG-Versorgung, zu einem deutlichen Rückgang der Gaspreise: die TTF-Benchmarks für Pipelinegas fielen im Oktober auf unter 100 Euro/MWh. Dies war weniger als ein Drittel des Allzeithochs Ende August, aber immer noch mehr als das Fünffache des 5-Jahres-Durchschnitts im Zeitraum 2016-2020. Spätestens in einer Kälteperiode dürften aber auch die Day-Ahead-Preise wieder hohe Werte erreichen. Die Lage der Gasversorgung bleibt trotz hoher Speicherstände angespannt, insbesondere sobald die Temperaturen sinken.

Ein Blick zurück: Ende August 2022 lag der Gaspreis für den Winterkontrakt 2022/2023 am niederländischen Handelspunkt TTF bei über 340 EUR/MWh, und auch die Preise für das Folgejahr 2023 bei mehr als 310 Euro/MWh. Seitdem sind die Preise für Gas an den europäischen Märkten stark gesunken. Die Preisrückgänge dürfen jedoch nicht davon ablenken, dass die langfristigen Gaspreise im Vergleich zu den Vorjahren weiterhin auf Rekordniveau liegen. Nachdem ein Großteil der russischen Lieferungen ausfiel, wurde der Import von Flüssiggas über die europäischen LNG-Terminals zum Rettungsanker für die EU. Schon Ende 2021 stiegen die LNG-Importe an und machten nach Kriegsbeginn einen weiteren Satz, um im Sommer auf Rekordniveau zu liegen. Rund 40 Prozent der importieren Gasmengen in die EU stammen derzeit aus LNG, insbesondere aus den USA.

Neben den hohen LNG-Importen hat auch Norwegen die Gasproduktion erhöht und steuert derzeit etwa ein Drittel der Gasimporte in die EU bei. Die stark gestiegenen Gasimporte aus anderen Ländern haben es Europa ermöglicht, seine Gasspeicher im Sommer und Herbst zu füllen. Gleichzeitig wurde die hohe Abhängigkeit Europas von russischem Erdgas konsequent verringert, während der LNG-Anteil am EU-Gasmix signifikant anstieg und einen erheblichen Teil der reduzierten Lieferungen Russlands ausgleichen konnte.

Die trügerische Sicherheit, bedingt durch milde Temperaturen, niedrigere Gaspreise und hohe Speicherniveaus, dürfen aber nicht zu Sorglosigkeit und zu optimistischen Vorhersagen über die für die Industrie essenzielle Versorgungssicherheit führen. Schon mit einer längeren Kältewelle könnte die Situation schnell umschlagen. Mit sinkenden Temperaturen wird - trotz Einsparungen im Heizverbrauch – immer mehr Gas aus den Speichern entnommen werden müssen, um einen Ausgleich zwischen Verbrauch und Importen bzw. Gasproduktion zu gewährleisten. Weitere Reduktionen oder sogar ein gänzlicher Stopp der russischen Lieferungen über die Ukraineroute, verbunden mit einer möglichen Solidaritätsanfrage eines Nachbarstaates, würden rasch zur Ausrufung der Notfall- oder sogar der Alarmstufe, voraussichtlich auch zu einem Union Alert auf EU-Ebene führen. Für die dann vorgesehenen Energielenkungsmaßnahmen gibt es bis heute keine klare, mit der Industrie abgestimmte Regelung entsprechend der Kriterien der EU-Verordnung über koordinierte Maßnahmen zur Reduzierung der Gas-Nachfrage.

Die Befüllung der EU-Speicher im Sommer 2022 profitierte von zwei Faktoren, die sich 2023 mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wiederholen werden: der Lieferung von immer noch rund 30 Mrd. m³ russischen Pipelinegases in die EU und niedrigeren LNG-Importe Chinas aufgrund seiner wirtschaftlichen Verlangsamung. Neben voraussichtlich weiter rückläufigen russischen Liefermengen ist in den nächsten Monaten deutlich verschärfte Konkurrenz aus Asien um verfügbares LNG zu erwarten. Chinas LNG-Importe werden voraussichtlich rasch steigen, wenn sich das Wirtschaftswachstum nach den Covid-bedingten Lockdowns erholt.

Bei vollständiger Einstellung der russischen Pipeline-Gaslieferungen in die Europäische Union, kombiniert mit einer Rückkehr der chinesischen LNG-Importe auf das Niveau von 2021, könnte Europa mit einer erheblichen Nachfrage-Lücke konfrontiert werden, insbesondere während der für die Einspeicherung für den Winter 2023/2024 wichtigen Sommerperiode. Je höher die Speicherstände am Ende dieses Winters, desto einfacher und sicherer wird die Befüllung für den Winter 2023/2024. Die Situation am Gasmarkt hat sich also derzeit etwas beruhigt, Entwarnung kann jedoch noch lange nicht gegeben werden.

Autor:
DI Oliver Dworak
E-Mail: oliver.dworak@wko.at 

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